Der Wind pfeift durch alle Löcher, reisst an den Haaren und trägt eine feine Gischt vom See herüber. Es rattert und knattert, quietscht und ächzt im Bühnengestänge, während die Darsteller ihre wagemutigen Sprünge üben. Beim Probenbesuch ist Noahs Raumschiff noch eine 20 × 35 Meter grosse, filigrane Gitterkonstruktion auf dem Staudamm, den heftigen Winden des Sees von Marmorera ausgesetzt. Mit rund 150 Stundenkilometern könnte der Wind in die Bühne fahren, bis sie samt Dach abheben würde, weiss Festival-Intendant Giovanni Netzer. Bald wird hier aber ein von schwarzen Planen abgedeckter Bunker mit Blicköffnungen auf den See stehen. Auf drei Etagen werden sich die Tänzerinnen und Tänzer auf eine Reise mit unbestimmtem Ausgang begeben.
Giovanni Netzer verwandelt den Sintflut-Mythos in eine moderne Sage: «Wenn der Klimakollaps käme und es gäbe eine Möglichkeit, sich auf eine Arche zu retten, würden sich heutzutage wohl kaum die Tiere, sondern die Wohlhabenden einen Platz sichern.» In seiner Inszenierung treffen sich die privilegierten Auserwählten auf einem atomsicheren Raumschiff, um ins All abzuheben. Mit an Bord sind ein amerikanischer Popstar, die Königin von England, ein Diktator mit seiner Frau, Kapitän Noah und seine zwei Matrosen. Ein blinder Passagier, der behinderte Sohn des Raumschiff-Konstrukteurs, facht die ohnehin gereizte Stimmung im engen Bunker noch an.
Vom Überleben
Netzer stellt in seiner Inszenierung Fragen, die schon beim archaischen Stoff aufgeworfen wurden: Was ist es wert, gerettet zu werden? Und welchen Preis ist die Menschheit bereit, dafür zu bezahlen? «Die Menschen geraten in ein Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit, Natur und Künstlichkeit. Auf der Arche hat der Mensch eine Chance zu überleben – aber möglicherweise zu furchtbaren Bedingungen», führt Netzer aus.
Mit seinen elf Tänzerinnen und Tänzern aus ganz Europa arbeitet Netzer auf der Basis der freien Improvisation. Im Laufe der Proben hat sich für jeden Einzelnen je nach Charakter und Fähigkeiten eine Rolle herauskristallisiert. So hat sich der holländische Tänzer Tycho Hupperets etwa für die Rolle des extrovertierten Stars entschieden – eine Mischung zwischen Popdiva, Basketballer und Laufstegmodel, wie er im Gespräch ausführt. Der Künstler, der sonst in der klassischen Kompanie im Nationalballett in Amsterdam tanzt, geniesst das eigene Entwickeln von Figuren und das Spiel mit Geschlechteridentitäten. Mit vorgereckter Brust stolziert er über die Bühne, klettert behände das Eisengerüst hinauf und wirft sich in Pose.
Tanz mit dem Wind
Was bei den Proben in der Turnhalle in Salouf eindrücklich aussieht, hat auf der windigen Originalbühne in Marmorera aber nicht zwingend dieselbe Wirkung. Hier gilt es, die Szenen und Gesten an widrige Bedingungen anzupassen. «Aus den Herausforderungen des Ortes entstehen gute Ideen: Die Tänzer müssen sich ein neues Bewegungsvokabular aneignen», sagt Giovanni Netzer. «Subtile Details gehen auf der grossen Bühne unter, dafür nutze ich den Wind für meinen Tanz und um mich in eine bestimmte Stimmung zu versetzen», ergänzt Tänzer Hupperets.
Die raue Bündner Berglandschaft versprüht einen eigenen Charme, aufgeladen durch die Geschichte von Marmorera: 1954 wurde das ganze Dorf überflutet, um den Stausee zu errichten. «Der Untergang des Dorfes ist gewissermassen das Urbild der Arche Noah, eine menschengemachte Klimakatastrophe», sagt Netzer. Ein Ort, wo die Erinnerung noch so präsent sei, verstärke die Atmosphäre des Stücks, ist er überzeugt. Auch Musik und Kostüme nehmen die besonderen Bedingungen des Ortes auf. Einmal mehr setzt Netzer auf Haute Couture: Martin Leuthold, Chefdesigner von Jakob Schläpfer, hat sich an einem Abend, als der See silbern glänzte, inspirieren lassen. Parallel zu den Rollen hat er die Kostüme entwickelt, bei denen silbern das vorherrschende Motiv ist. Die edlen Stoffe bestehen aus einem reflektierenden Material und nehmen die Lichtverhältnisse auf: So spiegelt sich die einbrechende Nacht auf dem Staudamm, die zunehmend bedrohliche Atmosphäre im Raumschiff, in den Kleidern wider.
Bis zum Eklat
Musikalisch setzt Netzer ebenfalls auf bewährte Kräfte: Der Komponist Lorenz Dangel hat mit dem Babelsberger Filmorchester in Berlin die Bühnenmusik eingespielt. Die sich verdichtende Atmosphäre vom anfänglichen Abtasten bis zum Eklat wird darin spürbar. Dazu kommt das elektronische Rattern des Raumschiffes, das sich mit Naturgeräuschen mischt. Das Publikum soll ahnen, dass es mit den Darstellern im selben Boot sitzt. Gemeinsam segeln sie im Raumschiff dem theatralen Untergang entgegen.
Noah
Fr, 12.7.–Sa, 10.8., jew. 20.00 Staudamm Marmorera GR (Anfahrt mit Postauto-Sonderkursen)
www.origen.ch