Die Begegnung ist elektrisierend: Vor dem Lift in einem Hotel in St. Moritz trifft die Ich-Erzählerin 1929 auf eine Frau, die sie vom ersten Moment an fasziniert. «… ja, in dieser Sekunde zu fühlen, wie auch sie stockt, beinahe schmerzhaft unterbrochen im Gang der Gedanken, als zögen sich ihre Nerven zusammen,  von meinen berührt», hält sie fest. Danach vergehen die Nächte in einer «Glut der Erwartung», die junge Ich-Erzählerin verzehrt sich in heimlichem Liebesverlangen. Nach kurzen Selbstzweifeln stürzt sie sich kühn ins Liebesabenteuer – auch wenn die gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit ein Verdrängen der Gefühle vorgeben würden.

Die damals 21-jährige Millionärstochter Annemarie Schwarzenbach hat mit ihrem kurzen Text ein leidenschaftliches Porträt einer jungen Frau im Gefühlssturm des Coming-out verfasst. Der Herausgeber Alexis Schwarzenbach ergänzt die Erzählung mit fotografischen Porträts. Durch die Kameralinse blickt die Autorin auf Frauen, die sie faszinierten – etwa auf Erika Mann, in die sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Ein weiteres Bild zeigt sie noch vor der Niederschrift von «Eine Frau zu sehen» in zärtlicher Umarmung mit ihrer Schulfreundin Mädy Hosenfeldt. Das Bild hatte ihre Mutter 1926 am Zürichsee aufgenommen.

Mit 34 Jahren ist die Schriftstellerin an den Folgen eines Fahrradunfalls in ihrer Wahlheimat im Engadin gestorben. Mitte November jährt sich der Todestag zum 70. Mal. Nebst der Neuauflage von «Eine Frau zu sehen» erinnern etwa ein Bühnenprojekt und ein neuer Band mit ihren afrikanischen Schriften im Chronos Verlag an die Autorin und Reisejournalistin, die ihrer Zeit voraus war.


[Buch]
Annemarie Schwarzenbach
«Eine Frau zu ­sehen»
Erstdruck aus dem Nachlass: 2008
Heute erhältlich bei Kein & Aber.
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