Am Anfang steht die grosse Desillusionierung: In der ersten und titelgebenden Erzählung «Liebe wird überschätzt» blendet die italienische Autorin Valeria Parella mitten in ein Familiengefüge, das längst aus dem Lot ist. Die Sport-Reporterin Federica hat mit einem Fechtmeister eine innige Affäre, ihr Mann Giorgio pflegt wechselnde Geliebte.
Das Unausgesprochene steht zwischen ihnen, aber die Eheleute spielen gegen aussen eine intakte Beziehung vor – vordergründig zum Wohl ihrer Tochter Susanna. Doch die Gymnasiastin hat ihre Eltern längst durchschaut. In den Ferien entlarvt sie die Lebenslügen ihrer Eltern und wirft ihnen schonungslos ihr scheinheiliges Verhalten vor. Natürlich ist die junge Frau überzeugt: «Ich bin anders.»
Bittere Erkenntnis und pures Begehren
In ihren acht Geschichten erzählt die in ihrem Heimatland preisgekrönte 44-jährige Valeria Parella von der Liebe in all ihren Formen: von Beziehungen und Affären, von bitterer Erkenntnis und purem Begehren, von der Liebe der Eltern zum behinderten Kind oder von der Liebe der Äbtissin zu Gott. Die Geschichten spielen oft in Valeria Parellas Heimatstadt Neapel und verhandeln in mal kantiger, mal poetischer Sprache das Wesen der Liebe. Die gelernte Gebärdensprache-Dolmetscherin und Linguistin, die auch als Schauspielerin und Buchhändlerin tätig war, versteht das Handwerk der Sprache: Mit wenigen Strichen schafft sie Atmosphäre, setzt gekonnt Pointen und hält den Spannungsbogen bis zum Schluss aufrecht.
Der Duft der Freiheit
Auf die triste Ehe-Geschichte folgt eine Erzählung voller Leidenschaft. Denn was mit Desillusionierung beginnt, nimmt eine überraschende Wende: Im Mittelpunkt steht eine abgeklärte 50-jährige Frau, die lange von Männern umschwärmt wurde. Mit ihrem jetzigen Leben als geschiedene Frau, die sich um ihre kranke Mutter kümmert, ist sie unzufrieden: «Schuld war dieses Leben, das mich in den Tag danach gezwängt hatte und dessen Wahrheit – die Unbeweglichkeit, der Verzicht, das Eingezwängtsein – mir mit Trompetenschall verkündet wurde.» Doch dann findet sie sich unverhofft auf der Vespa eines Kellners wieder, riecht den Duft nach «Moschus und waldigem Unterholz» und fühlt sich plötzlich wieder lebendig …
Gewisse Erzählungen spielen auch mit mystischen Motiven. Etwa die Geschichte «Das letzte Leben», in der eine junge Frau an Leukämie erkrankt. An der Schwelle zum Tod nimmt die Ich-Erzählerin den Alltag, die Sprache, die Zeit, die geliebten Menschen auf andere Weise wahr und lässt langsam los, während ihre Eltern im Leben zurückbleiben.
Aus der spirituellen Welt zurück in das weltliche Leben tritt hingegen die Äbtissin in einem neapolitanischen Kloster. Bei der Beichte hat sie sämtliche Abgründe der Menschheit kennengelernt. Sie selbst hat das Gebot der Nächstenliebe verinnerlicht: Als eine blutjunge schwangere Prostituierte auf der Flucht vor der Camorra Zuflucht im Kloster sucht, nimmt sie diese liebevoll auf. Aus Angst vor Rache flieht die junge Frau nach der Geburt aus dem Kloster. Die Äbtissin hingegen nimmt zum Wohl des elternlosen Neugeborenen ein persönliches Opfer auf sich und kehrt dem Kloster, in dem sie 20 Jahre lang Zuflucht vor der Welt gefunden hat, den Rücken. «Liebe wird überschätzt» lautet zwar der zynische Titel des Erzählbands. Aber einige Geschichten erzählen genau vom Gegenteil.
Buch
Valeria Parella
Liebe wird überschätzt
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, 144 S. (Hanser 2017)