Stellen Sie sich vor, Sie gehen morgen zur Schule, setzen den Thek ab, kramen den Stundenplan hervor. Darauf steht: «8.20–9.05: lineare Funktionen, 9.10–9.55: Subjonctif, 10.15– 11.00: achtsame Berührungen und Grenzen.» Was das für eine Welt wäre, zeigt das Zürcher Theater Hora. In ihrem neuen Stück befassen sich die professionellen Schauspielerinnen und Schauspieler mit kognitiven Beeinträchtigungen mit dem Thema «Liebe lernen».

Lust und Genuss kommen oft zu kurz

Co-Regisseurin Yanna Rüger erzählt in der gemütlichen Probenküche der Roten Fabrik, wie es dazu kam. «In unserem Arbeitsalltag traten Liebe und Sexualität immer wieder an die Oberfläche. Es gab Beziehungen im Ensemble, oder eine Probe wurde unterbrochen, weil einige ihre sexuelle Energie umgesetzt haben.» Dies habe sie jeweils abgebrochen, weil ein Arbeitsort der falsche Raum sei, um sich mit Sexualität zu beschäftigen.

«Dann haben wir uns gefragt: Wo ist denn aber der Ort, wo man seine Fragen stellen und üben kann, miteinander in einer einvernehmlichen Form Sexualität zu leben?» Die Aufklärung von kognitiv beeinträchtigten Menschen sei oft von Negativität geprägt, sagt Rüger. Daniel Cremer, die andere Hälfte des Regie-Teams, ergänzt: «Die Hauptbotschaft, die man als Mensch mit Beeinträchtigung bekommt, ist: Werde auf keinen Fall schwanger, man kann sich Krankheiten holen, und es gibt Übergriffe.

Das ist alles wichtig, aber der Teil von Lust und Genuss kommt kaum vor. Und: In diesem Punkt haben auch Menschen ohne Beeinträchtigung Nachholbedarf.» In der «Schule der Liebenden» wird geforscht und gelehrt, was Liebe und Sexualität eigentlich ist, wie man Bedürfnisse wahrnimmt und seine Empfindungen in Worte fasst.

Statt Frontalunterricht setzen die Horas auf Sinneserfahrungen, die im Probenprozess oft durch Improvisation entstanden sind. Madame Rainbow (Caitlin Friedly) führt kommentierend durch den Unterricht, der sowohl auf der Bühne als auch in einem kurzen Aufklärungsfilm stattfindet.

Ein Bühnenbild zum Durchatmen

Die Filmvorführung ist in die Darstellung eingebettet, die Leinwand Teil der Theaterkulisse. Diese ist ein eigenes Kunstwerk. Die begehbare Rauminstallation von Carolin Gieszner kann bereits an den Wochenenden vor der Premiere in der Shedhalle besichtigt werden: Der Theaterraum ist durch lange, flatternde Vorhänge in grünen, durchsichtigen und blauen Stoffen abgesteckt.

Auf zwei Sitztreppen kann das Publikum sich zwischen weiche Pflanzenkissen sinken lassen, die über die Stufen ranken. In den Ecken türmen sich braune Schaumstoffsteine. Der Boden ist bedeckt von einem Teppich, der eine grüne Moorlandschaft imitiert. Quer durch den Raum windet sich ein blauer Fluss aus glänzender Folie, in der Mitte, etwas erhöht, steht ein Flussbett mit flauschigen «Moos»-Rändern. Rüger sagt, das Bühnenbild solle alle Sinne des Publikums ansprechen, die spielerischen und neugierigen Seiten aktivieren und das Nervensystem beruhigen.

«Wir nehmen an, dass der Stücktitel ‹Schule der Liebenden› einige Leute nervös macht. Sie haben vielleicht Angst, dass etwas Schockierendes, Nacktes kommt, das sie überfordert.» Deshalb solle das Bühnenbild zum Durchatmen und Entspannen einladen.

«Das offene Herz, das ist die Liebe»

Zum Lehrplan gehört aber auch das Setzen von Grenzen, was Fabienne Villiger mit Ausdruck und Witz zeigt. Sie steht inmitten der Bühnenkonstruktion und schickt in jede Richtung ein prägnantes «Nein», das sie mit einer stoppenden Handbewegung untermalt. Friedly fragt: «Was machst du da?» «Ich übe, Nein zu sagen», antwortet Villiger. Ihre «NeinBlase» beschütze sie vor unliebsamen Berührungen, erklärt sie.

Als Discomusik ertönt, beginnt Villiger, erotisch zu tanzen. Ein Mann nach dem anderen kommt nun zu ihr, doch sie blockt alle mit ihrem «Nein» ab. Bis auf Gianni Blumer. Ihn lockt sie mit gekrümmtem Zeigefinger. Blumer klopft, kramt clownesk nach dem unsichtbaren Schlüssel und tritt schliesslich in die «Nein-Blase» Villigers ein. Das Wort Liebe wird von den Horas weit gefasst, auch Freundschaften und Selbstfürsorge haben darin Platz. Das Stück hat eher eine fliessende, assoziative als eine narrative Struktur, was zunächst für Orientierungsprobleme sorgen kann.

Die Figuren suchen jedoch so behutsam und authentisch nach Formen der Liebe, dass man einfach berührt sein muss. Besonderes Highlight ist die tänzerische Kommunikation zum poetischen Text von Schauspieler Matthias Grandjean. Während er in einem Kleid mit Fuchsschwanz langsame Bewegungen auf dem Flussbett macht – ein bisschen sieht es aus, als würde er Luft und Boden streicheln –, liest Kollegin Friedly vor: «Das offene Herz, das ist die Liebe, Schönheit, zusammen bleiben.»

Simon Stuber kopiert schüchtern die Bewegungen Grandjeans. «Komm ruhig näher, du versuchst, ihn mit deinem Körper zu verstehen», sagt Rüger ermutigend.

Steigerung zum ultimativen Genuss

Später steigen auch Fabienne Villiger und Gianni Blumer in die Spiegelung Grandjeans ein. Friedly liest mit sanfter Stimme: «Wir, die lieben und zusammen sind, Wäsche waschen, sich luegen. Das fühlt sich schön an, wie eine Massage, die ich einmal bekommen habe in der Höschgasse.»

Mireille Mathieus Schlagersong «Die Liebe zu dir» ertönt. Alle Spielerinnen und Spieler steigen aufs Flussbett, übersetzen die Musik in Schwingungen der Arme, steigern sich zur Euphorie und leben den ultimativen Genuss.

Schule der Liebenden
Premiere: Fr, 8.12., 20.00
Shedhalle, Rote Fabrik Zürich