Mit 18 war Cathy Marston zum ersten Mal in Zürich. An ihrem ersten Arbeitstag als Tänzerin, auf dem Weg zum Opernhaus, traf sie der Anblick der Stadt wie ein Blitz. «Der imposante Bau des Opernhauses, der glitzernde See dahinter und über mir ein hellblauer Himmel», erinnert sich Marston, «das schien mir ein gutes Zeichen für meine Zeit hier.» Heute sitzt die 48-Jährige im Zuschauerraum des Opernhauses, flankiert von ihren beiden Ballettmeistern, und gibt Anweisungen für die Bühne.
Schon vor ihrem Einstand als Direktorin des Balletts Zürich stellt sie sich dem Zürcher Publikum mit einer ihrer erfolgreichsten Produktionen vor: «The Cellist». Es ist der erste Tag nach den Studioproben auf der Opernhaus-Bühne. Neben den Tänzerinnen und Tänzern, die im Hintergrund einzelne Schritte wiederholen, machen sich auf der Bühne auch Techniker an der Ausstattung zu schaffen. Dann gibt Cathy Marston das Zeichen für die nächste Szene, und die Musik setzt ein, ein Ausschnitt aus dem Cellokonzert von Edward Elgar.
«Mehr als eine Geschichte von Liebe und Verlust»
Auf einem Podest sitzt die Solistin Giulia Tonelli, hautnah der Tänzer Wei Chen, und ihr gegenüber steht Esteban Berlanga als «The Conductor», als Dirigent. Chen wird zum Resonanzkörper für die Cellistin alias Tonelli. Heftig streicht sie mit einem imaginären Bogen über ihr Instrument. Auf Chens nach oben gestrecktem Arm setzt sie virtuos ihre Töne, die in einem Vibrato heftig nachzittern.
Bald lösen sich die drei Tänzerinnen und Tänzer aus ihrer fixen Konzertposition und bewegen sich hinaus in den Raum. Die fliessenden Bewegungen des Trios sind Ausdruck purer Musik. «The Cellist» steht für die legendäre englische Cellistin Jacqueline du Pré, die nach einer fulminanten Karriere 1987 früh an Multipler Sklerose verstorben ist. Mit «The Conductor» ist der nicht weniger berühmte Dirigent Daniel Barenboim gemeint, Ehemann von du Pré. «Das Stück ist mehr als eine Geschichte von Liebe und Verlust», sagt die Choreografin, «es geht mir auch um die Beziehung der Musikerin zu ihrem Instrument.
Dieses ungeheure Talent, das du Pré hatte, ist ein Geschenk, bedeutet aber auch Verantwortung.» Marston faszinierte diese Symbiose zwischen Künstlerin und Cello je länger, desto mehr. Bevor sie mit ihrer Arbeit dazu am Royal Ballet in London begann, flog sie mit dem Intendanten Kevin O’Hare nach Berlin, um Barenboim zu treffen und quasi sein Okay einzuholen. Da es sich um eine nicht fiktionale Person handle, habe man als Librettistin eine besondere Verantwortung, gibt Marston zu bedenken.
Die Literatur hat Cathy Marston in den Genen
Cathy Marston liebt es, im Tanz Geschichten zu erzählen, von Biografien oder Literatur motiviert. Sei es über Anna Göldi, die als letzte Hexe Europas in Glarus hingerichtet wurde, oder sei es ein Theaterstück von Shakespeare. Von Literatur auszugehen, das hat die in Newcastle aufgewachsene Choreografin schon fast in den Genen. Beide Eltern lehrten englische Literatur.
Lesen bedeute ihr viel, sagt Marston und verwirft die Hände, denn dafür finde sie bei ihrem enormen Arbeitspensum leider kaum Zeit. Ihre Karriere verlief langsam, aber stetig. Als Kind wollte sie, inspiriert von einer TV-Serie, Polizistin werden. Als ihr die Mutter erklärte, diese sei nicht echt, sondern nur eine Schauspielerin, war das Interesse der kleinen Cathy an der Theaterwelt geweckt. Erst übte sie sich im Steptanz – Fred Astaire hatte es ihr angetan –, dann auch in anderen Tanzformen.
Genauso nahm sie Reit- und Schwimmstunden und zeigte kein bevorzugtes Interesse für den klassischen Tanz. Erst als sie sich mit späten 16 Jahren an der Royal Ballet School für eine professionelle Ausbildung bewarb und aufgenommen wurde (was übrigens nur sehr wenigen Aspirantinnen von aussen gelingt), schlug das Pendel zugunsten des Balletts um. Ihr Interesse am Choreografieren erwachte früh. Sie hatte das Glück, an der Schule exzellente Choreografie-Dozenten zu treffen und gefördert zu werden.
Nach einem ersten Engagement als Tänzerin am Opernhaus Zürich folgten Jahre im Ensemble des Theaters Luzern unter Richard Wherlock. Dieser machte sie später auch darauf aufmerksam, dass in Bern eine neue Ballettdirektion gesucht werde. Marston nahm die Herausforderung an und wirkte von 2007 bis 2012 als junge Tanzchefin des Bern Balletts. In ihrem letzten Jahr dort wurde sie schwanger. Zusammen mit ihrem australischen Mann hat sie inzwischen ein zweites Kind; heute sind die beiden 7 und 10 Jahre alt.
Die Schweiz ist ihre zweite Heimat geworden
Nach Bern ging es für Marston nahtlos weiter als ChoreografieFreelancerin, weltweit und oft an renommierten Häusern. «Das war eine harte Zeit, aber ich bin ein resilienter Mensch», sagt sie lächelnd. «Am Anfang bin ich mit meinem Baby gereist. Später übernahm mein Mann den Grossteil der Kinderbetreuung, wenn ich unterwegs war.»
Choreografie und Familie haben sich für sie nie gegenseitig ausgeschlossen. Inzwischen ist die Schweiz für Marston zur zweiten Heimat geworden, die Familie hat in Bern ein Haus. Nach so vielen Jahren in der Schweiz verfügt Marston über ein grosses Netzwerk. Das möchte sie in ihrer Position als Ballettdirektorin nutzen. Zentral sei für sie die Zusammenarbeit nicht zuletzt in den Proben.
Sie schätze die Meinungen der anderen im künstlerischen Prozess und wolle sie möglichst mit einbeziehen, auch wenn sie am Ende die letzte Entscheidung zu treffen habe. «Ich mag es einfach, im Team zu arbeiten», resümiert Marston, «genau das ist der Grund, warum ich tue, was ich tue.» So simpel kann klingen, was so viel Empathie und Offenheit erfordert. Und innere Stärke dazu.
The Cellist
Premiere: So, 30.4., 19.00
Opernhaus Zürich