Umberto Nobile ist mit der «Italia» gekommen, seinem Luftschiff. Über dem Nordpol hat er an diesem 24. Mai 1928 die Triumphhymne der Faschisten gespielt, eine Fahne abgeworfen und auf Bitte des Papstes auch ein Kruzifix. Dann stürzt Nobile samt Besatzung und Hund ab. Gerettet werden sie dank einem Kurzwellensender. Zudem hilft ihnen ein Revolver, hungrige Eisbären zu verscheuchen.
Ausgerechnet ein sowjetischer Eisbrecher fischt die tollkühnen Italiener aus dem Eis. Die Kommunisten frohlocken über die gestrandeten Faschisten, und der Revolutionsdichter Wladimir Majakowski veröffentlicht das erste Eisbrecher-Poem der Welt: «Wir sind Sieger / in dieser nackten Kälte: staune, Welt.»
Expeditionen trotz zahlreichen Hindernissen
Dies ist eine von vielen Geschichten, die der Historiker Andreas Renner in seinem mit zahlreichen Karten angereicherten Buch «Nordostpassage» aus den Archiven holt und anschaulich erzählt. Stoff hat er genug. Denn schon im 16. Jahrhundert taucht die Idee auf, es könnte im hohen Norden einen Seeweg nach Asien geben. Expeditionen machen sich auf den Weg und scheitern oft genug.
Wie jene zwei englischen Schiffe voll von zu Eis erstarrten Toten, die russische Fischer im Mai 1554 im Weissen Meer vor der Halbinsel Kola entdecken. Die Besatzung hat sich vermutlich mit ihren Öfen selbst vergiftet.
Doch trotz enormen Hindernissen dringen Expeditionen Stück um Stück gegen Osten vor, erkunden Seewege und Küsten. Oft sind sie gezwungen, im Eis zu überwintern. Oft müssen sie aufgeben, wieder umkehren, im günstigsten Fall beladen mit wertvollen Schwarzfuchs- und Zobelfellen. Gleichzeitig dehnen auch die Zaren ihr Herrschaftsgebiet gegen Osten aus, schicken Kosakentrupps und Kartografen zu den abgeschieden lebenden Völkern Sibiriens, die sich keineswegs freuen über die neuen Herrscher.
Auch dank dem technischen Fortschritt geht die Sache voran. Im 19. Jahrhundert löst die dampfgetriebene Seefahrt die einfachen Segelschiffe ab. Und Russlands Interesse verlagert sich. Jetzt geht es um Bodenschätze, um Holz zunächst, dann um Erze, Mineralien, Erdöl und Erdgas. Und es geht, mehr denn je, um Macht.
Eine spektakuläre Rettung bringt Helden hervor
Keiner zeigt das deutlicher als Josef Stalin, der Mann, dessen Eisbrecher Umberto Nobile rettet. Zehntausende Zwangsarbeiter bauen Siedlungen, legen Marinestützpunkte an, arbeiten auf Erdölfeldern und in den Minen – während die Propaganda das Hohelied des Erfolgs singt. Sogar in der Stunde der Niederlage. Denn eigentlich rechnet Otto Schmidt, Stalins Mann für die Erschliessung des hohen Nordens, mit dem Schlimmsten, als er am 19. Juni 1934 in Moskau eintrifft.
Die von ihm angeführte Expedition hat in der gefährlichen Tschuktschensee ihr Schiff verloren, junge Flieger mussten sie spektakulär von einer Eisscholle retten. Doch das Land hat mitgefiebert, und so wird die Rückkehr der Helden zum Triumphzug. Am Roten Platz winkt Stalin gnädig vom Dach des Lenin-Mausoleums, und Otto Schmidt wird nicht erschossen.
Andreas Renner
Nordostpassage – Geschichte eines Seewegs
Mit vielen Karten 272 Seiten
(Mare 2024)