Manche Jahre sind besonders prall gefüllt mit epochalen Ereignissen. Welche dies sind, zeigt sich allerdings erst aus einiger zeitlicher Distanz, und es hängt von der Perspektive ab. Vor 100 Jahren ereignete sich ein «Wunderjahr der Worte», findet der deutsche Dichter, Übersetzer und Anglist Norbert Hummelt. Tatsächlich wurden 1922 mit James Joyce’ Roman «Ulysses» und T. S. Eliots Gedicht «The Waste Land» zwei der wichtigsten Texte der literarischen Moderne veröffentlicht. Und Rainer Maria Rilke vollendete mit den «Duineser Elegien» und den «Sonetten an Orpheus» sein Spätwerk.

Damit ist 1922 ein repräsentatives Jahr der klassischen Moderne. Zerrissen zwischen dem Entsetzen über die Verheerungen des Weltkriegs und der experimentierfreudigen Aufbruchstimmung, sprengten Künstlerinnen und Künstler aller Gattungen die hergebrachten Formen und Regeln. Zugleich mehrten sich die Zeichen, dass die Zeit der Gewalt noch lange nicht vorbei sein würde. In Deutschland wurde der jüdische Reichsaussenminister Walther Rathenau von Rechtsradikalen ermordet. In Italien marschierte Mussolini mit seinen Schwarzhemden nach Rom. Und in der Sowjetunion griff Stalin nach der Macht in der kommunistischen Partei.

Hummelt bespricht das Jahr chronologisch
All dies und noch viel mehr verwebt Hummelt kompetent und kühn in das Porträt eines Jahres. Dass diese Beschränkung den historischen Entwicklungen nur bedingt gerecht werden kann, ist ihm dabei bewusst. So verweist er etwa auf die jahrelange Arbeit von Joyce’ monumentalem Roman oder macht einen Ausflug in die 40er-Jahre zu Eliots spä­terer Lyrik.

Hummelts Entscheid, das Jahr 1922 chronologisch Monat für Monat und zuweilen Tag für Tag durchzubesprechen, hat Vor- und Nachteile. Ergiebig ist die Form des Buchs dort, wo die Synchronizität der vielfältigen schöpferischen Tätigkeiten aufgezeigt wird. So fand Rilke in seinem trutzigen Walliser Wohnturm in völliger Abgeschiedenheit, ohne Heizung, Strom oder Zeitungen, wieder in eine produktive Phase, just während Eliots Gedicht in Paris erst dank einer intensiven Zusammen­arbeit mit Ezra Pound in seine endgültige Form kam. Und höchst amüsant wird etwa das Zusammentreffen von Joyce und Proust geschildert. Die beiden grössten Romanciers des Jahrhunderts wussten schlicht nichts miteinander anzufangen.

Dichter und Bierbrauer, Fussballer und Faschisten
Mit einer breiten und etwas konturlosen Auflistung verwässert Hummelt leider seinen ­eigenständigen Zugang. Satz um Satz hüpft er zuweilen zwischen den Gesellschaftsbereichen herum, von den Dichtern zu den Bierbrauern, von den Faschisten zu den Fussballern.

Überzeugend ist Hummelt dagegen dort, wo er aus seinem subjektiven Zugriff auf das «Wunderjahr der Worte» keinen Hehl macht. Etwa wenn er seine Grossmutter ins Spiel bringt, die  ihn familiär und persönlich mit den 20er-­Jahren verbindet. Gelungen sind auch seine literarischen Interpretationen insbesondere von Eliot, den er in seiner eigenen Übersetzung zitiert, oder von Rilke, an dessen Beispiel Hummelt, selber Dichter, feinfühlig die Fragilität der poetischen Schaffenskraft aufzeigt.

Buch
Norbert Hummelt 
1922 – Wunderjahr der Worte
416 Seiten
(Luchterhand 2022)