Roman: Tiktok-Jugend auf Abwegen
Julia von Lucadous Roman «Tick Tack» über die schnelllebige Welt von Social Media ist eine klug erzählte, widerständige Geschichte.
Inhalt
Kulturtipp 10/2022
Karsten Redmann
«Tick Tack Tick Tack und Boom.» Mit diesen Worten endet der neue Roman der deutschen Schriftstellerin Julia von Lucadou. Es ist nach «Die Hochhausspringerin» ihr zweiter Roman: eine doppelbödige Geschichte aus sich ständig abwechselnden Kapiteln der Hauptfiguren Mette (15) und Jo (26). Beide hochbegabt. Beide empfindsam. Beide fest eingebunden in die schnelllebige Welt von Social Media.
Von der Verlogenheit der Welt – insbesondere ihrer Famili...
«Tick Tack Tick Tack und Boom.» Mit diesen Worten endet der neue Roman der deutschen Schriftstellerin Julia von Lucadou. Es ist nach «Die Hochhausspringerin» ihr zweiter Roman: eine doppelbödige Geschichte aus sich ständig abwechselnden Kapiteln der Hauptfiguren Mette (15) und Jo (26). Beide hochbegabt. Beide empfindsam. Beide fest eingebunden in die schnelllebige Welt von Social Media.
Von der Verlogenheit der Welt – insbesondere ihrer Familie – frustriert, kündigt Mette in einem Tiktok-Video ihren Suizid an. Als dieser misslingt, muss sie sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Ex-Student Jo, der sich von der Aussenwelt in sein ehemaliges Kinderzimmer zurückgezogen hat, lässt im Netz als sogenannter «Anonymous» seinen angestauten Frust raus. Für seine perfiden Zwecke instrumentalisiert er die psychisch instabile und damit leicht manipulierbare Mette. Wie eine Waffe setzt er die 15-Jährige im analogen wie digitalen Kampf gegen den Mainstream ein.
Intelligente, aber tief verzweifelte Charaktere
Von Beginn an entwickelt die klug und kunstvoll erzählte Geschichte einen extremen Sog – ausgehend von der ersten Szene im Wartezimmer einer Therapeutin bis hin zum befreienden Tanz vor einer Schaufensterscheibe. Stets ist man mitten im Geschehen, sitzt im Kopf der jeweils vor sich hin sinnenden Figur. Die Jugendsprache ist anfangs vielleicht ungewohnt: bissig, ironisch, sarkastisch und direkt. Aber genau so ist der Text angelegt – man soll sich nicht zu wohl fühlen, sich nicht zu sehr hingeben. Daher kann es einem beim Lesen von «Tick Tack» zumindest gefühlsmässig ähnlich gehen wie der Protagonistin Mette, wenn sie ihrer Therapeutin gegenübersitzt: «Das Geräusch ihres Kugelschreibers auf dem Clipboardpapier kratzt an meiner Hirnrinde.» Intelligente, aber tief verzweifelte Charaktere richten über die Welt, ständig wird reflektiert, Bezug genommen. Wer sich für abgründige, widerständige Texte begeistern kann, ist mit diesem gegenwärtigen Roman bestens bedient.
Buch
Julia von Lucadou
Tick Tack
256 Seiten
(Hanser 2022)