«Er ist ein menschlicher Stumpf, ein halber Mann, der die Hälfte seiner selbst, die ihn zu einem Ganzen machte, verloren hat.» Nach dem Tod seiner Frau vor zehn Jahren fühlt sich Seymour T. Baumgartner, genannt Sy, zwar noch lebendig, «er liebt noch, er begehrt noch», aber ihm fehlt die langjährige Weggefährtin, seine  bessere  Hälfte. Der  70-jährige  Witwer leidet unter Phantomschmerzen der Liebe. 

Im neuen, autobiografisch inspirierten Roman «Baumgartner» rückt Paul Auster, dessen Krebserkrankung im März öffentlich bekannt wurde, einen emeritierten  Professor  in den Mittelpunkt. Allein in seinem Haus in Princeton, New Jersey, blickt der titelgebende Protagonist auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Er erinnert sich an seine Zeit mit der Liebe seines Lebens, der impulsiven, klugen Anna Blume, freiberufliche Übersetzerin und Dichterin.

Randnotizen eines erfüllten Lebens

Das erste Mal begegnen sich die beiden Ende der 60er-Jahre in einem Secondhandladen in New York, fünf Jahre später heiraten sie, werden zu einem jener kinderlosen, «ewig jungen Paare». Bis Anna, gerade mal 58-jährig, bei einem Badeunfall ums Leben kommt. 

Immer wieder schafft es Paul Auster in seinen Büchern, in eleganter Sprache eigene, realistische Welten zu kreieren, mit lebensechten Figuren und glaubhaften Geschichten, mitten aus dem Leben gegriffen. Auch der jüngste Roman – mit 200 Seiten im Vergleich zum letzten Werk, dem 1000-seitigen «4 3 2 1», schmal ausgefallen – ist knallvoll mit den unglaublichsten Anekdoten. Baumgartner erinnert sich an viele flüchtige Augenblicke. Es sind Randnotizen eines erfüllten Lebens.

Dafür nutzt der Autor gekonnt verschiedene Stilmittel, wechselt zwischen Reminiszenzen, Traumbildern und Gedankengängen, integriert sogar Kurzgeschichten und Gedichte in seinen Roman. Während die Rahmenerzählung in den Jahren 2018/2019 spielt, springt Auster immer wieder in andere Zeitebenen. Zwischendurch taucht er etwa ins New York der 70er-­Jahre ein, umreisst in Rückblenden die Biografien von Baumgartners Eltern und wandelt auf den Spuren von dessen Grossvater in der Ukraine.

Konkrete Zeitangaben oder beiläufige Hinweise verorten die Geschehnisse in ihrem jeweiligen historischen Kontext. 

Weise, witzige Erzählung mit schrulligen Figuren

Wie so oft bei Auster spielen Zufälle für den Fortgang der Handlung eine entscheidende Rolle. So wird Baumgartner in eine Reihe von Missgeschicken verstrickt, durch die er auf einige schrullige  Nebenfiguren wie zum Beispiel den hilfsbereiten Zählerableser Ed Papadopoulos trifft. Während die  Charaktere treffend skizziert sind, gerät die Bandbreite an  Themen und Ideen, die Auster in seinen kompakten Roman packt, zuweilen etwas ausser Fokus.

Dennoch ist «Baumgartner» eine ebenso weise wie witzige Erzählung über Tod und Trauer, Verlust und Einsamkeit im Alter, die durchaus Mut macht.

Buch
Paul Auster
Baumgartner
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
208 Seiten
(Rowohlt 2023)