Es gibt diese Träume, die im Alltag entspringen und sich eine unbedeutende Situation, eine Empfindung oder ein seltsames Bild zur nächtlichen Verarbeitung vornehmen. Ein lange nicht mehr gesehenes Gesicht etwa, das sich verselbständigt, seine Züge wechselt und in eine Geschichte mündet, über deren Surrealität man beim Morgenkaffee nachdenkt. Und es gibt an sich schon surreale Bilder wie jenes eines kleinen Jungen, der im Zug sitzt und eine Schwimmweste trägt.

Matthias Zschokke nennt ihn Zéphyr und lässt ihn von Nancy nach Basel fahren, beaufsichtigt von einem Mitreisenden, den seine Mutter zur Betreuungsperson machte. «Er wusste nicht, was er empfand» Der Mitreisende heisst SaintBlaise oder eigentlich Peter und gibt Zschokkes neuem Roman den Namen: «Der graue Peter». Grau ist Peter, weil er als Beamter arbeitet, weil er mit seiner Frau kaum spricht und anderthalb Kinder verloren hat. Das eine bei der Geburt, das andere unter einem Lastwagen.

In beiden Fällen blieb Peter unbeteiligt, denn: «Er wusste nicht, was er empfand», beschreibt ihn der Autor und begründet dies damit, «weil ihm gewissermassen ein Empfindungschromosom fehlte». Auch Zéphyr zeigt kaum Regungen und will seine Schwimmweste selbst beim Schlafengehen nicht ablegen. Die Welt um sich versteht er nicht.

Was ihm der unbekannte Monsieur erzählt, überfordert ihn. Matthias Zschokke beschreibt die Begegnung von Peter und Zéphyr – inklusive Vor- , Nachund zahlreicher Nebengeschichten – in seiner ureigenen Art: inhaltlich wie geträumt, indem sich alles auf überraschende Weise entwickelt. Indem thematische Verzweigungen ins Nichts führen und Nebensächlichkeiten über Seiten ausgebreitet und erörtert werden.

Formal, indem er sich um erzählerische und sprachliche Konventionen foutiert, etwa die Erzählperspektive wechselt und eher protokolliert denn erzählt. Dies wiederum passt zu seinen empathielosen Akteuren. Kein Platz im Hier und Jetzt Wer Zschokke schon früher gern gelesen hat oder seine Filme kennt, wird sein neues Buch mit Hingabe lesen. Der heute 69- jährige Berner, der seit 1980 in Berlin lebt, hat sich gleichsam auf schräge Figuren spezialisiert, die im Hier und Jetzt keinen Platz finden.

Schon Max, titelgebender Protagonist von Zschokkes gefeiertem Debütroman von 1982, war ein Entflieher und Wegläufer. Die drei Jahre später im Film porträtierte «Edvige Scimitt» zog quer durch Europa, die «Piraten» von 1991 sprechen für sich. Und so ging es weiter durch viele Bücher, Stücke und Filme. Zschokke nimmt sich seiner Protagonisten durchaus liebevoll an, sein Markenzeichen ist die «melancholische Heiterkeit». Peter und Zéphyr sind tragische Gestalten, und so etwas wie Ironie blitzt in diesem Roman selten auf.

Man muss es sagen: Das Lesen wird zuweilen anstrengend. Doch Durchhalten lohnt sich. Zschokke ist mit «Der graue Peter» für den Schweizer Buchpreis nominiert, der am 19. November im Rahmen der Messe Buch Basel vergeben wird. Die Lesetour kehrt nach vielen Auslandterminen nochmals in die Schweiz zurück.

Lesungen
Do, 2.11., 19.30
Stadtbibliothek Luzern
Sa, 18.11., 12.30 Volkshaus Basel

Buch
Matthias Zschokke
Der graue Peter
176 Seiten
(Rotpunkt 2023)