Ein junges Mädchen wird das Opfer einer rigiden Gesellschaft, in der für Frauen und Männer unterschiedliche moralische Ansprüche gelten: Der englische Schriftsteller Thomas Hardy (1840–1928) wählte diese Ausgangslage für seine Schicksalsgeschichte von «Tess» (engl. «Tess of the d’Urbervilles»). Die pflichtbewusste, aber etwas naive Schöne gerät an den rücksichtslosen Lebemann Alec, der sie schwängert. Das unerwünschte Neugeborene stirbt allerdings nach ein paar Wochen.

Damit ist für Tess der Weg frei, sich ihrer grossen Leidenschaft zuzuwenden, dem liebenswürdigen Angel. Die beiden finden zwar zusammen, aber nur so lange, bis Angel von ihrem Vorleben erfährt. Daraus entwickelt der Erzähler Thomas Hardy ein packendes Drama, das die Verlogenheit der ländlichen, kleinbürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts perfekt illustriert. Zu spät erkennt Angel, dass Tess seine wahre Liebe ist, und dass er sie wegen ihrer Vergangenheit zu Unrecht verstossen hat.

Auch wenn die Handlung heutigen Lesern plakativ erscheinen mag, lohnt sich die Lektüre sehr: Thomas Hardy zeichnet die Charaktere differenziert. Gut und Böse sind nur in Schattierungen erkennbar. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat den Roman nun neu herausgegeben.

Thomas Hardy
«Tess»
Deutsche Erst­ausgabe: 1925
Heute erhältlich bei DTV.