Linden, überall stehen Linden. Duftend, Schatten spendend, zuweilen irritierend. Über breite Avenuen huschen lebensfrohe Yuppies, ältliche Damen essen Krautwickel, in Hinterhöfen und Hinterköpfen öffnen sich historische Abgründe. Der Stadtrundgang durch Bukarest, zu dem Dana Grigorcea mit ihrem zweiten Roman einlädt, ist so betörend wie faszinierend.

Vor wenigen Wochen hat die 35-jährige Wahlzürcherin in Klagenfurt den 3sat-Preis gewonnen. Nun kann der dort vorgetragene Text in seiner Gesamtheit gelesen werden. «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» heisst der Roman, dessen Lektüre nach wenigen Seiten süchtig macht. Die junge Bankerin Victoria ist aus Zürich nach Bukarest zurückgekehrt. Nach einem Überfall wird sie zur Erholung freigestellt und packt diese Gelegenheit, um alte Bekannte zu besuchen, sich ihrer Verwandten zu entsinnen und mit ihrem Liebhaber Flavian das moderne Bukarest zu erkunden.

Anders als in ihrem Debüt «Baba Rada» (2011) bleibt Grigorcea hier auf dem Boden der Realität. Der Romantitel bezieht sich auf ein multipel aufflackerndes «Damals», das vor der Wende verspürt wurde – oder auch früher. In einer assoziativ-sprudelnden Erzählweise zeichnet die Autorin Geschichten und Geschichte ihrer Geburtsstadt auf, die sich nach allen Dimensionen hin öffnen. Die «dunkle» Zeit der kommunistischen Diktatur lauert zwischen den Zeilen. Es dominieren Ironie, Lebenslust und zärtliche Wehmut. Dana Grigorcea macht spürbar, was eine Stadt ihren Bewohnern bedeutet und wie sich diese mit ihr verändern.

Buch
Dana Grigorcea
«Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit»
263 Seiten
(Doerlemann 2015).