Das Arbeitsklima in der Londoner Anwaltskanzlei Hanger, Slyde & Stein könnte besser sein. «Im Moment haben wir drei Anwälte mit Krebs, zwei mit Nervenzusammenbruch, eine, die ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden hat, aber immer noch keine Scheren oder Heftklammerentferner haben darf …» Dieses Fazit zieht die Juristin Joy Stephens und beschliesst, ihre Mitarbeit zu beenden.

Nicht etwa mit einer Kündigung; sie springt vielmehr vor aller Augen aus dem Fenster – während der Feier anlässlich ihrer Beförderung zur Teilhaberin der Kanzlei. Diese Geschichte erzählt der englische Schriftsteller Jonathan Lee in seinem neuen Roman «Joy». Grund zur Freude hat in diesem Buch indes kaum jemand. Lee lässt seine Leser in die Abgründe überforderter Neurotiker blicken, die vor allem damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu hintergehen und Geld zu scheffeln.

So ist ein Sittenbild der Londoner City entstanden, in dem einzig die moralische Dekadenz die Menschen verbindet.

Mit Sinn für einen burschikosen Humor

Was eine verbiesterte Abrechnung mit dem Zeitgeist der David-Cameron-­Jahre hätte werden können, bietet jedoch mehr. Lee hat einen Sinn für das Groteske und verfügt über einen köstlichen, wenn auch burschikosen Humor. Der heute in New York lebende Autor Jonathan Lee hat selbst jahrelang als Jurist gearbeitet.

Als Schriftsteller ist er mit einem Roman über das IRA-Attentat auf die britische Premierministerin Margaret Thatcher in Brighton bekannt geworden. In seinem Buch «Joy» setzt er nun gänzlich auf Fiktion und überdreht das Geschehen ins Absurde.

Jeder trägt ein Geheimnis mit sich

Der Einstieg in den Roman gibt gleich den Takt vor. Die Protagonistin Joy findet nach einem langen Arbeitstag die Haustür ihres Appartements im hippen Nord-Londoner Stadtteil Angel offen und befürchtet ein Verbrechen. Aber alles ist halb so schlimm. Ihr Ehemann Dennis verlustiert sich lediglich mit einem Callgirl und hat im Eifer vergessen, die Tür abzuschliessen.

Dennis ist ein Literaturwissenschafter, der ein allgemein verständliches Buch über William Shakespeare verfassen will. Schade nur, dass er an der Uni gerade freigestellt ist, weil er einer Studentin zu nahe gekommen sein soll, was er vor Joy verheimlicht. So leben alle Protagonisten in diesem Roman mit einem Geheimnis. Natürlich auch Joy, die ein Verhältnis mit dem Partner ihrer besten Freundin hat. Dieser wiederum ist der Typ «harte Schale, weicher Kern» und damit für eine Anwaltskarriere denkbar schlecht geeignet, auch wenn er seinen Zynismus kultiviert:

«Zwei Menschen führen eine wunderbar glückliche Ehe … Was kann man sich mehr wünschen? Geheimnisse. Lügen. Risiken.»

Vier Protagonisten erzählen

All diese grossen und kleinen Dramen im alltäglichen Wahnsinn der Kanzlei erzählt Lee aus der Perspektive von vier Protagonisten – nicht aber der suizidalen Joy. Diese fühlte sich stets missverstanden:

«Sie hat einmal in der Firma gefragt, ob sie es nicht komisch finden, dass sie alle in den gleichen Geschäften die gleichen Taschen kaufen und die gleichen Sachen hineinstopfen, aber die anderen zogen nur die Augenbrauen hoch, die spinnt doch, und wechselten das Thema.»

Und zum Schluss kommt alles anders

Die Handlung liest sich streckenweise wie ein Countdown, denn sie spielt am anscheinend letzten Lebenstag von Joy. Rückblenden aber führen blitzartig immer wieder zurück in die Vergangenheit. So verliert Joy im Gedränge des Wimbledon-­Tennisturniers ihren kleinen Neffen, den ihr die Schwester anvertraut hat. Der Kleine geht Joy förmlich von der Hand und ist nicht mehr auffindbar; eine Szene, die Lee allerdings wenig glaubwürdig schildert.

Der Verlust des Kindes führt zu einer Reihe weiterer Erschütterungen. Den Schluss der Tragödie im Haus Hanger, Slyde & Stein bildet nicht etwa Joys Sturz aus dem Fenster. Es kommt zwar genauso schlimm, aber ganz anders.