Roman: Der Rausch des Retters
Journalist und Notfallsanitäter Tobias Schlegl spricht in seinem packenden Roman «Strom» Missstände im Gesundheitswesen an.
Inhalt
Kulturtipp 06/2024
Babina Cathomen
Unter Strom befinden sich die Protagonisten im Roman, wenn sie als Notfallsanitäterinnen oder als Pfleger Leben retten. Ein Zustand, der im Extremfall süchtig machen kann, wie der Autor mit seiner Figur Frank zeigt: Der wortkarge Familienvater ist medikamentenund alkoholabhängig und zieht sein ganzes Selbstwertgefühl aus seiner Arbeit im Pflegeheim. Wenn er mal wieder einen Patienten reanimieren konnte, suhlt er sich in der Bewunderung seiner Kollegen, und «er sp&uum...
Unter Strom befinden sich die Protagonisten im Roman, wenn sie als Notfallsanitäterinnen oder als Pfleger Leben retten. Ein Zustand, der im Extremfall süchtig machen kann, wie der Autor mit seiner Figur Frank zeigt: Der wortkarge Familienvater ist medikamentenund alkoholabhängig und zieht sein ganzes Selbstwertgefühl aus seiner Arbeit im Pflegeheim. Wenn er mal wieder einen Patienten reanimieren konnte, suhlt er sich in der Bewunderung seiner Kollegen, und «er spürt die Energie im ganzen Körper knistern, als flösse Strom durch seine Adern».
Dieser Rausch und die Machtgefühle, die er dabei empfindet, verleiten ihn allerdings zu ungeheuren Taten. Als sich die Reanimationen auf der Demenzstation häufen, schöpfen die 20-jährige Nora und ihr Kollege Diddy Verdacht … Tobias Schlegl erzählt aus der Sicht von Nora, mit der er einige Gemeinsamkeiten hat. Der deutsche Journalist, der in den 90ern als Moderator des Musiksenders «Viva» bekannt wurde, hat sich 2016 zum Notfallsanitäter ausbilden lassen und auch auf einer Demenzstation gearbeitet.
Mit Schreiben hat er angefangen, um die psychisch belastenden Situationen in diesem Beruf zwischen Leben und Tod zu verarbeiten, wie er in Interviews sagt. In seinen Debütroman «Schockraum» und ins neuste Werk ist viel von diesen Erfahrungen eingeflossen. Schlegl erzählt mit Empathie sowohl für die Patienten als auch für die Pflegerinnen, prangert aber auch die Arbeitsbedingungen und den Personalnotstand an, wie sie teilweise auch für die Schweiz gelten.
Mit «Strom» schafft Tobias Schlegl mit seinem Gespür für Spannungsaufbau und Timing einen Pageturner. Nur die Auflösung wird allzu oberflächlich abgehandelt und vermag nicht ganz zu überzeugen. Aber der Einblick in den Pflegealltag, der von tristen bis zu berührenden und humorvollen Szenen alles bereithält, lohnt die Lektüre.
Buch
Tobias Schlegl
Strom
240 Seiten
(Piper 2023)