Zeki ist ein launischer, gebrochener Mann. Einmal verspricht er seinem Sohn, dass er ein Kaninchen mitbringt, das sich das Kind so sehr wünscht. Zu Hause zieht er einen roten Fleischklumpen aus der Tüte. «Kaninchen sind zum Essen da», lacht er.

Ein andermal beschimpft Vater Zeki seinen Sohn als eine «grosse Enttäuschung», als sich der Kleine nicht vom Sprungbrett ins Wasser wagt. Es gibt aber auch zärtliche Momente, in denen Zeki seinem Sohn märchenhafte Geschichten aus seiner südtürkischen Heimatstadt Mardin erzählt.

Auf der Suche nach einer Annäherung des Herzens

«Vaters Meer» ist der dritte Roman des 1983 in Hannover geborenen Deniz Utlu. Der Autor umkreist darin das Leben seines Vaters und erzählt von seinem eigenen Aufwachsen. Zeki wandert nach Deutschland aus. Seine erste Frau verschwindet mit der gemeinsamen Tochter zurück in die Türkei. Er heiratet ein zweites Mal, Sohn Yunus kommt auf die Welt. Nach zwei Schlaganfällen, der Sohn nennt es «zweifachen Fall», fällt er ins Koma.

Locked-in-Syndrom lautet die Diagnose. Zeki muss künstlich ernährt werden, ist komplett gelähmt. Fortan kann er nur noch mit den Augen kommunizie - ren – und das bleibt bis zu seinem Tod zehn Jahre später so. Mit «Vaters Meer» hat Deniz Utlu ein Erinnerungsbuch geschrieben, traurig, aber auch poetisch und lebensbejahend. Denn Yunus lebt sein Leben unbeirrt weiter, während seine Mutter am Bett ihres Mannes wacht. Er hat Liebesbeziehungen, studiert in Berlin, feiert.

Die Figuren in seinem Werk sind zwar erdacht, aber angelehnt an reale Personen. Er habe die Fiktion gebraucht, um sich an den Vater herantasten zu können, sagt Utlu im Gespräch. «Ich habe nach einer Annäherung des Herzens gesucht. Biografische Fakten allein konnten mir da kaum helfen.»

Auch das Locked-in-Syndrom kennt er aus seiner eigenen Familie. Das Thema ist dermassen prägend für ihn, dass er gar zwei Semester Gehirnanatomie studiert hat. Nun folgte die literarische Verarbeitung. «Ich musste lange jede Hilfe verweigern», sagt er. «Letztlich war es vor allem die Erinnerung an Vaters Humor und seine kindliche Seite, die er sich bis zum Schluss bewahrt hatte, die mir halfen, Leichtigkeit zu finden bei diesem Thema.»

Mit Sprachbildern, die nachhallen

«Vaters Meer» ist auch ein Liebesdienst an die eigene Mutter – sie ist die eigentliche Heldin dieser Geschichte. Senem gibt ihren Job in einem Labor in Ankara auf, um zu Zeki nach Hannover zu ziehen. Auch sie flüchtet mit Yunus in die Türkei, kehrt aber zurück. Nachdem ihr Mann zu einem Pflegefall wird, kümmert sie sich um ihn.

Auch ihrem Sohn versucht sie ein möglichst unbeschwertes Leben zu ermöglichen. Seine Mutter, sagt Utlu, habe ihn bei seinem Schreibprozess bedingungslos unterstützt. Utlu schafft Sprachbilder, die nachhallen. «Ich trage das Meer in meinem Namen. Yunus bedeutet Delfin», sagt Yunus. Auch das türkische Wort Deniz bedeutet Meer – und wenn man vor das Wort Utlu den Buchstaben M setzt, ergibt sich daraus das türkische Wort Mutlu, glücklich. Und irgendwie passt das zu Utlus Poesie, die trotz aller Tragik Stärke ausstrahlt.

Radio
Zwei mit Buch
Simon Leuthold und Felix Münger sprechen mit Deniz Utlu über seinen Roman
Mo, 18.12., 18.30 SRF 2 Kultur
So, 24.12., 11.03 SRF 2 Kultur

Buch
Deniz Utlu
Vaters Meer
384 Seiten
(Suhrkamp 2023)