«Eigentlich müsste ich dazu einen Film machen», schoss es Rio Wolta durch den Kopf, als er sich durchs SRF-Archiv wühlte. Spitzbübisch erzählt der 32-Jährige von der «Goldgrube», die sogar ihn als Archiv-affinen Historiker baff zurückliess. Ein Musiker, der Archive durchforstet? Mitnichten. Rio Wolta arbeitet interdisziplinär. Wie ein Fisch im Wasser schwimmt der Zürcher zwischen Musik, Film, Theater und bildender Kunst. Sich festnageln: unmöglich. Auch eine Überlebensstrategie, wie er sagt: «Musiker müssen, um zu überleben, mit dem Film ins Bett, das Theater wird interdisziplinär, und Museen wollen plötzlich Musik und Performances.»
Knallbunt gekleidete Langläufer zu Pianomusik
Im preisgekrönten Video zu «Through My Street» (2015) liess er mit Regisseur Piet Baumgartner zwei Bagger tanzen, 2016 luden sie – der Plattform Youtube überdrüssig – zur begehbaren 360-Grad-Musik-Video-Performance «Maschinen». Und statt das Album «No More Intimate Music» (2018) ins Publikum zu spielen, wurden die Songs in der Zürcher Gessnerallee im Dunkeln präsentiert. Bewusst liess man die visuelle Komponente weg und lockte die Besucher akustisch aus der Reserve.
In den letzten Jahren arbeitete Wolta öfter in China und verfolgte die Kommunistische Partei. 2019 entstand die Single «Apollo», welche vom Handelskrieg zwischen China und den USA erzählt. Dieser und die geschlossenen Grenzen ziehen sich auch thematisch durch das neue Album «Belle Epoque». In Eigenregie schuf der Multiinstrumentalist acht zarte, feingliedrige Songs – allesamt kleine, nostalgische Kunstwerke.
Parallel dazu tauchte Wolta in den SRF-Fundus ein. Er stiess auf Bilder und Töne aus dem unbeschwerten Kapitel des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegsjahre, die mit der Handelskriegsthematik – und zufällig auch der Corona-Krise – kontrastieren: «Damals machte der Mittelstand noch Skiferien und flog nicht auf die Malediven.» So wuseln in den Musikvideos Hunderte knallbunt gekleidete Langläufer am Engadin Skimarathon zu wärmenden Piano-Melodien und fragilen Gitarren durch den Schnee. In harmonisch in den Sound verwobenen Interviewschnipseln erzählen sie von ihrer – aus heutiger Sicht herrlich unverkrampften – Beziehung zum Sport.
Klang das letzte, mit der Band eingespielte Album, noch nach einem aufbrausenden Jäger, so wandelt der Multiinstrumentalist sich auf der Solo-CD zum besonnenen Sammler. «Im Pop legt jeder auf der Bühne einen Striptease hin und erzählt von sich. Da muss man entschieden dagegenhalten», erklärt Wolta seinen Anspruch, Geschichten zu erzählen und zu dramatisieren. Mangels Konzerten fokussiert er nun etwa auf die Performance «Bittersweet Tea Symphony», bei der er und Piet Baumgartner mit 200 Teekochern die Transzendenz in die Kirche zurückbringen wollen.
CD
Rio Wolta
Belle Epoque
(Sihlfeld Produktionen 2021)
Rio Woltas Kulturtipps
Podcast
Alles gesagt?
«Dieser überlange Interviewpodcast der ‹Zeit› ist ein wichtiger Gegenpol zum allgegenwärtigen Kurzfutter.»
Buch
Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität (1977)
«Ich frage mich, wieso alles, was auf der Bühne stattfindet, authentisch und ehrlich sein muss? Richard Sennett gibt Antworten und erzählt auch von der Entpolitisierung der Bühne.»
Dokfilm
Letzter Aufruf BER – der lange Weg zum Berliner Flughafen (Arte 2020, über Youtube)
«Ich finde diese Tragödie herrlich komisch: Im Oktober wurde der neue Flughafen Berlin mit Jahren Verspätung eröffnet – und nun fliegt niemand.»