Wie einfach doch die Opernwelt in den 90er-Jahren zu verstehen war: Luciano Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras machten sich mit ihrem Gentlemen-Klub «Die drei Tenöre» zu Königen und teilten sich den Tenor-Thron. Ein vierter nach dem anderen versuchte, in die Trias einzudringen – und scheiterte. Doch da die drei tenoralen Ausnahmegestalten mit der Jahrtausendwende längst nicht mehr so gut wie einst sangen, klagten die Opernfreunde bald: «Wo sind die grossen Tenöre?»
Ein Blick zurück: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte die Schallplatte Enrico Caruso berühmt – und Caruso die Schallplatte. Das aufkommende Medium Radio brachte diese nektarsüsse Riesenstimme in die entlegensten Winkel der Welt, inspirierte Jungtenöre und machte vulgäre Epigonen zu Töne schleudernden Volkshelden. Bisweilen musste einer gar nicht auf der Bühne gestanden haben, um «neuer Caruso» genannt zu werden. Bald konnten Tenöre in Fernsehshows und Hallen auf- und verblühen, in Klatschmagazinen von allen Seiten ausgeleuchtet werden. Es war kein Zufall, dass die Fussball-Weltmeisterschaft in Italien, «Italia 90», zur Geburtsstunde der «drei Tenöre» wurde. Dank der Medialisierung gab es auf den Nebengeleisen der Seriosität immer wieder Tenöre, die sich mit dem hohen C, mit Schlagern und Schnulzen in die Herzen der Massen sangen: Mario Lanza und Joseph Schmidt einst sowie billige Kopien davon, wie Helmut Lotti und Andrea Bocelli.
Die Masseinheit sind Gänsehaut und Tränen
Bezeichnenderweise konnte ein miserabler Sänger wie Paul Potts 2007 nach dem Gewinn einer britischen Casting-Show jahrelang Opernarien singend durch die Welt touren: Er imitierte mit klischierten Gesten die grossen Tenöre (insbesondere Pavarotti) und erreichte damit jene Leute, die noch nie einen Fuss in ein Opernhaus gesetzt hatten. 2012 folgte ihm Jonathan Antoine und zeigte einmal mehr, dass selbst Tenor-Karikaturen Ruhm und Reichtum erlangen können. Die seriösen Tenöre können heute noch so schön «O sole mio» singen, die Masse interessiert sich nicht mehr dafür. Immerhin bleiben sie in ihrer kleinen Opernwelt die Prinzen.
Doch der Kampf um die Tenorkrone ist nun mal einer mit unlauteren Mitteln: Wo die Masseinheit Gänsehaut und Tränen sind, stehen Kenner auf verlorenem Posten. Ein mit engelgleichem Schmelz Mozart-Arien singender Tenor konnte nie in den Kreis der Thronanwärter treten, er musste seine vokalen Schönheiten auch der Interpretation von Operetten-Arien opfern.
Nach 2000 jagte Rolando Villazón von einem Triumph zum nächsten, stellte in der legendären Salzburger «Traviata» 2004 gar seine Bühnenpartnerin Anna Netrebko in den Schatten. Doch die grösste Tenorhoffnung der letzten 30 Jahre mutete sich zu viel zu und geriet 2006 in eine Stimmkrise, aus der er bis heute nicht mehr herauskam. Die Anlagen wären ideal gewesen, denn der Mexikaner repräsentierte die verruchte, verletzliche und triumphale Seite des Tenor-Daseins perfekt: Er wollte einen Thron neben der Sonne.
Die Suche nach der Nummer 3
Jonas Kaufmann trat an seine Stelle und fegte mit dunkel grundiertem Timbre und seiner Fähigkeit zu grandiosen Ausbrüchen alle anderen von der Bühne. Dieser blendend aussehende König der Tenöre ist sich selbst für die Helene-Fischer-Show nicht zu schade.
In seiner Heimat Peru ist Juan Diego Flórez so populär wie Helene Fischer in Deutschland, füllt ganze Fussballstadien. Mit seinem hochsensiblen Organ und dem engen Repertoire bleibt er in Europa aber trotz spektakulären Liederabenden genau wie einige grosse Wagner-Tenöre gewollt in der Raritätenecke der Spezialisten hängen. Und als Mozart-Tenor lässt sich heute im Vergleich zu einst schon gar kein Ruhm mehr gewinnen. Und doch ist Flórez heute wohl die Nummer 2.
Aber wo ist die herausragende Nummer 3? Soll das wirklich Roberto Alagna sein? Oder der süsschwärmend singende Piotr Beczala? Eher als der wacker-bravouröse Francesco Meli oder Fabio Sartori? Doch wo sind die hoffnungsvollen 30-Jährigen, wo die ausgereiften 40-Jährigen? Gehört Paolo Fanale auf den Thron? Bryan Hymel, Lawrence Brownlee, Javier Camarena, Benjamin Bernheim oder Fréderic Antoun?
Es gibt viele Tenöre, aber keine überragenden. Doch wer weiss, ob der nächste Caruso nicht schon in Catania ein unbeschwertes «Funiculì, Funiculà» singt. Hat nicht im Herbst 2017 in Zürich der für die Zürcher unbekannte René Barbera in «Fille du Régiment» uns alle zu Tränen gerührt?
Das Jammern ist ein Topos. Bereits Leo Tolstois Romanfigur Anna Karenina klagte anlässlich ihres Opernbesuchs im Jahr 1850: «Es gibt keine Tenöre mehr.»
Oper
Piotr Beczala in Jules Massenets Oper «Manon»
Premiere: So, 7.4.,
Opernhaus Zürich
Konzert
Liederabend mit Rolando Villazón
Mi, 1.5., 19.00 Opernhaus Zürich
Radio
Jonas Kaufmann in Giuseppe Verdis Oper «Otello»
So, 31.3., 20.03 SWR 2
Bayerische Staatsoper (2018)
Fernsehen
Roberto Alagna in Giacomo
Puccinis Oper «Madama Butterfly»
So, 31.3., 20.15 ORF III
Met New York (2006)
Juan Diego Flórez singt Mozart
So, 7.4., 20.15 ORF III
Konzert mit dem Orchestra la Scintilla
Leitung: Riccardo Minasi
Festkonzert aus München (2017)
CDs
Jonas Kaufmann
Eine italienische Nacht
(Sony 2019)
Juan Diego Flórez
Mozart
(Sony 2017)
Roberto Alagna & Aleksandra Kurzak
Puccini in Love
(Sony 2018)