Zehn Stunden lang Schlagzeug spielen? Das klingt nach Konditionstraining und mentaler Durchhalteübung. Lucas Niggli aber hat es anders erlebt, als er vor einem Jahr beim Festival Wien Modern einer der drei Schlagwerker war, die Olga Neuwirths «coronAtion IV» uraufgeführt haben.

Jetzt wird der Zürcher Schlagzeuger und Perkussionist diese Parforceleistung zusammen mit E-Bassist João Carlos Pacheco und Perkussionistin Sylwia Zytynska erneut auf sich nehmen, im Zürcher Museum für Gestaltung im Rahmen des Zürcher Festivals Unerhört! 

Geistig und körperlich in einem neuen Zustand

Olga Neuwirth schrieb ihren sechsteiligen «coronAtion»-Zyklus während der Pandemie, als das Verstreichen der Zeit von vielen Menschen plötzlich ganz anders wahrgenommen wurde. Für sie sei es von 180 auf null gegangen, beschreibt Olga Neuwirth diesen Einschnitt.

Die 55-jährige österreichische Komponistin, die davor zwischen Berlin und New York hin- und herjettete, fand sich in der Natur der Steiermark wieder und nahm den Gesang von Vögeln auf, den sie auch in die Samples ihres «coronAtion»-Zyklus einbrachte. Bis auf Teil vier sind die Stücke sehr kurz geworden, dieser aber sprengt dafür alle Grenzen.

«Eine Extremerfahrung», sagt Lucas Niggli, aber keine Folter, im Gegenteil: «Nach neun Stunden denkt man: Oh, bloss noch eine Stunde. Man will gar nicht, dass es zu Ende geht, weil das Zeitempfinden sich total verändert und man in einen geistig und körperlich völlig neuen Zustand geraten ist.»

Eine Pause ist gar nicht nötig

Diese Erfahrung bietet Neuwirths Stück auch den Zuhörern: Sie sind komplett frei, wann, wie lange und wie intensiv sie zuhören möchten. Man darf kommen und gehen, man darf sich auf den Boden legen oder zwischendurch ein anderes Konzert im üppigen Programm des Festivals Unerhört! besuchen. «Man darf auch einschlafen», lacht Niggli. Und auch die drei Spieler dürfen Pausen einlegen.

Er habe allerdings damals in Wien bloss zweimal für kurze fünf Minuten seinen Platz verlassen: «Man ist so im Flow und in einem Zustand von Konzentration, dass man gar kein Bedürfnis nach Pause verspürt.» Der vierte «coronAtion»-Teil ist sehr langsam. Es gibt einen Tonband-Loop von etwas mehr als 30 Minuten Dauer mit zehn Gongschlägen pro Minute und einem Klangteppich aus elektronischen Streichern, der sich sehr langsam verändert. Dieser Loop wird 19-mal wiederholt.

Die drei Solisten haben elf verschiedene Rhythmen, aus denen sie frei und spontan auswählen sollen. «Es gibt keine Absprachen», sagt Niggli, «aber es kann sein, dass man sich im gleichen Rhythmus wiederfindet oder sich ein Kanon ergibt. Trotz der meditativen Atmosphäre bleibt das Stück so immer lebendig».

Das Publikum bewegt sich um die Musiker herum

Die Langsamkeit und Ruhe erwecken eine sakrale Stimmung: «Man hängt nicht wie sonst im Konzert einer Dramaturgie nach, sondern es entsteht ein immersives Erlebnis, sicher meditativ, aber auch anregend», sagt der Schlagzeuger. «Es gibt keine Bühne, sondern drei Inseln für uns Interpreten, und das Publikum bewegt sich um uns herum.

Der Sounddesigner Oliver Brunbauer verteilt die Klänge im Raum, und der Lichtkünstler Lukas Matthys bespielt den Saal ebenfalls mit grosser Langsamkeit.» Seit über 20 Jahren bringt das Festival Unerhört! die verschiedensten Strömungen der zeitgenössischen Musik in den Kanton Zürich. Für Niggli eines seiner Lieblingsfestivals, weil die Diversität so gross ist: «So verschiedene Stilrichtungen, Möglichkeiten, Spielhaltungen kommen hier zusammen.

Das ist ein Highlight für einen wie mich, der selber ganz verschiedene Hüte trägt: vom klassischen Interpreten über den improvisierenden Musiker bis hin zum Dozenten. Diese Vielfalt mag ich schon sehr.» Diversität ist Lucas Niggli wichtig. Gerade hat er mit der Basel Sinfonietta und der NDR Big Band ein sehr virtuoses Programm mit einer Uraufführung von Michael Wertmüller gespielt.

Zu seinen vielen Bands und Prokjekten gehören das Improvisationstrio Steamboat Switzerland, die TechnoJazz-Band 60° Alliance mit seinen beiden Söhnen oder Projekte mit dem britischen Kontrabassisten Barry Guy. 

«coronAtion IV»
So, 3.12., 11.00–21.00 Museum für Gestaltung Zürich