Februar 2019: In der Nähe von Lubumbashi im Süden Kongos kollidiert ein mit Schwefelsäure beladener Tanklastwagen mit einem voll besetzten lokalen Kleinbus und einigen Häusern am Strassenrand. 21 Menschen sterben, zahlreiche weitere erleiden schwere Verletzungen und Verätzungen, die giftige Säure verschmutzt den nahen Fluss. Die Schuldfrage ist schnell geklärt: Verantwortlich ist allein der Chauffeur.
Dass er im Auftrag einer Mine unterwegs war, wo man Schwefelsäure benötigt, um wertvolle Rohstoffe wie Kupfer oder Kobalt aus dem Gestein zu lösen, wird verschwiegen. Die Mine gehört zum Imperium des Schweizer Rohstoff-Riesen Glencore. Aber es kommt keinem von den nahen und fernen Managern in den Sinn, zu helfen, Not zu lindern, Verantwortung zu übernehmen. Eine Justiz, die solches einfordern könnte, existiert nicht im Süden Kongos. Niemand hört den betroffenen Menschen zu – bis Milo Rau ihnen eine Stimme gibt.
Zusammen mit dem kongolesischen Autor Fiston Mwanza Mujila hat er mit «Justice» ein Musiktheater-Szenario entworfen und dabei auch den Komponisten Hèctor Parra und den Dirigenten Titus Engel von Anfang an miteinbezogen.
Der Kongo ist für Milo Rau vertrautes Terrain
Die Toten, Verletzten und ihre Familien bekommen Gehör: Der Chauffeur tritt auf, ein Advokat, ein Priester, auch der Direktor und seine Frau. Gesänge und Rhythmen aus Afrika mischen sich mit Stimmen von Opfern, Schuldigen und Geistern aus Mythen und Legenden. Der katalanische Komponist Hèctor Parra verbindet sie alle mit Elementen aus der zeitgenössischen Musik.
Der Kongo ist vertrautes Terrain für Milo Rau: 2015 hat er ein symbolisches Tribunal entworfen, das die Massaker und Gräueltaten im kongolesischen Bürgerkrieg mit Millionen von Toten thematisiert. Katastrophen, Ungerechtigkeiten, Umweltskandale und Machtmissbräuche in (post-)kolonialistischen Kontexten sind seit vielen Jahren die Lieblingsthemen des Schweizer Regisseurs und Filmemachers. Was ihn dabei auszeichnet, ist der Blick nicht von aussen und von oben, sondern von den Menschen aus, denen Leid und Ungerechtigkeit widerfahren ist.
Es geht ihm dabei weniger um das Dokumentieren als vielmehr um das Aufzeigen der Mechanismen von Macht und Einfluss. Ihn interessiert, wie Behörden und Justiz mit den Menschen und Geschehnissen umgehen. Manchmal stellt er Gerichtsverhandlungen nach, wie sie tatsächlich ablaufen könnten. In seinen «Zürcher Prozessen» liess er zum Beispiel unter realen Umständen eine Jury über den publizistischen Kurs der «Weltwoche» urteilen.
Den Betroffenen eine Stimme geben
Die letzten Tage des rumänischen Diktators Ceausescu zeichnete Milo Rau ebenso nach wie die verqueren Gedanken des norwegischen Nazi-Terroristen Breivik. Mit «Hate Radio» traf er den Nerv des Publikums, indem er nichts anderes tat, als Schauspieler die unsäglichen Botschaften eines Huti-Propaganda-Senders während des Völkermords in Ruanda nachsprechen zu lassen.
Und 2021 versetzte er die «Antigone» von Sophokles unter die Indigenen Brasiliens, die vor der Kulisse brennender Regenwälder für ihr Recht auf Land und eigenständiges Leben kämpfen. Manchen ist der 1977 in Bern geborene Theatermacher auch schon deutlich zu weit gegangen. Zum Beispiel als er die Taten des Kindermörders Marc Dutroux nachzeichnete und dabei auch Kinder zu Wort kommen liess. Rau will den Betroffenen eine Stimme geben. Theater für Eliten, so aufgeklärt sie auch sein mögen, genügt ihm nicht.
Sehr oft finden sich die kleinen, namenlosen Menschen, von denen er erzählt, auch persönlich und authentisch in seinen Inszenierungen, und das nicht nur als Statisten. Nach vielen Jahren und mehreren Dutzend Produktionen in der freien Szene, die in über 30 Ländern gezeigt wurden, übernahm Milo Rau von 2018 bis 2023 die künstlerische Leitung des Niederländischen Theaters im belgischen Gent – und nicht die Intendanz am Zürcher Schauspielhaus, für die er aussichtsreicher Kandidat war. Seit 2023 ist er Leiter der Wiener Festwochen.
Den Worten folgen auch Taten
Milo Rau hat schon einmal Oper inszeniert, ebenfalls in Genf: 2021 setzte er Mozarts «La clemenza di Tito» in Szene, und auch damals überschrieb er Mozarts Intrigenspiel mit den Schicksalen von Genfer Obdachlosen und gestrandeten Flüchtlingen. Die Oper sei eine «neue Liebe», sagt Milo Rau. Die Musik habe die Kraft, das Zufällige, Banale auf eine universelle Stufe zu heben.
Der Genfer Intendant Aviel Cahn, der sich noch nie gescheut hat, seine Bühne kontroversen Künstlern zur Verfügung zu stellen, schenkte Milo Rau nun erneut sein Vertrauen. Diesmal nicht für ein Werk des Opern-Kanons. Die erste Idee war es, eine Oper über das «Rote Kreuz» für Genf zu entwerfen. Aber das war Milo Rau zu abstrakt. Genf als wichtiger globaler Handelsplatz für Rohstoffe lag näher. Den Kongo kennt er so gut, dass er Heimweh danach habe, wenn er nicht dort sei, sagt Milo Rau.
Teile der Produktion entstanden denn auch vor Ort, zum Beispiel vor den Terrassen einer Kobalt-Mine, und werden als Videos in die Oper eingespielt. «Kunst ist eine Form von Gerechtigkeit», sagt Milo Rau. «Im Vergleich dazu, was im Kongo täglich passiert, scheint ein solches Ereignis kaum bedeutend. Aber indem wir es vor dem Vergessen bewahren, geben wir ihm eine symbolische Kraft.»
Und den Worten folgen auch Taten: Das Grand Théâtre lanciert zusammen mit NGOs aus dem Kongo und der Schweiz eine Hilfskampagne für die Opfer jenes Unfalls vor fünf Jahren.
Justice
Premiere: Mo, 22.1., 20.00
Grand Théâtre de Genève