Von diesem schmalen Buch mit seinen vielen Denk- und Sprachminiaturen geht eine unbändige Kraft aus. Bereits nach den ersten Sätzen ist die Energie mitunter körperlich zu spüren.
Auf die an sich selbst gerichtete Frage, wo sie sich gedanklich im Angesicht ihres nahenden Todes befinde, antwortet die Autorin Etel Adnan: «Ich bin inmitten von allem, woran ich denke. Es gibt Brände in Kalifornien, sie sind wieder da. Ich brenne. Bin einer der Bäume, der in den Flammen verschwindet. Mein Körper, schwarz und grau, wird Asche.»
In der Bretagne entstand ihr letztes Werk
Etel Adnan verfügt über die seltene Gabe, die Welt, in der sie fühlt und denkt, mit wenigen Worten zugänglich und begreifbar zu machen. Dabei ist ihr Stil durchweg lakonisch, sinnlich ihr poetischer Zugang.
Ihre Gedankenwelt umspannt Themen wie die griechische Mythologie, das aktuelle Zeitgeschehen, Klimaphänomene, Kriege, aber auch die Liebe zu Literatur und Malerei. Über die «auffällige » Verwandtschaft zwischen Picasso und Goya schreibt sie: «Goya malte die Schrecken des Krieges, Picasso malt den Schrecken eines anderen Krieges, den zwischen Mann und Frau, wie er ihn lebte, unvermeidlich, nie gewonnen, nie völlig verloren, eine ewige Wiederkehr.»
Bevor sie Ende 2021 starb, lebte die libanesisch-US-amerikanische Autorin in Erquy, einer kleinen Küstengemeinde in der Bretagne. Dort empfand sie eine tägliche Freude beim Anblick des Ozeans, dem Kommen und Gehen der Wellen, von Ebbe und Flut. In ihrem Zimmer mit Blick auf das Meer verfasste sie den kurzen, posthum erschienenen letzten Band ihres literarischen Werks.
Altersbedingt war der Bewegungsradius der 1925 in Beirut geborenen Kosmopolitin während des Verfassens von «Die Stille verschieben» erheblich eingeschränkt: Reisen konnte sie nicht realisieren – der Körper wollte einfach nicht mehr. In Gedanken reiste sie jedoch überall hin, träumte sich an all die Orte ihrer Kindheit.
Neben dem eigenen Körper wurde die Zeit selbst mehr und mehr zu einer Gegenspielerin. Im Text heisst es: «Früher liebte ich die Zeit, sie war eine Substanz … Diese Tage sind dahin gegangen, wohin Tage gehen, auf ihre eigenen Friedhöfe.»
Ein waches Interesse am Weltgeschehen
In Adnans sehr persönlichen Aufzeichnungen spürt man all die Sehnsucht und Todesangst einer sensiblen Künstlerin. Wehmütig schreibt sie: «Ich weiss, was in mir bleibt, unter diesen Wolken, in diesem Wind, dieser Kälte, diesem Winterwetter: das Bedürfnis, in Griechenland zu sein. Werde ich sterben, ohne nach Delphi zurückzukehren, nach Athen?»
Es ist bemerkenswert, wie tiefgehend sich Adnan bis ins hohe Alter mit den Geschehnissen der Welt auseinandergesetzt hat, so auch mit künstlicher Intelligenz. Als sie einen von einer solchen KI-Technologie verfassten Verstext in die Hände bekommt, gibt sie weitsichtig zu bedenken: «Von jetzt an ist alles möglich; nicht der Dichter ist der Dichter, sondern erst der Leser!» Etel Adnan sei auch nach ihrem Tod eine breite Leserschaft gewünscht.
Etel Adnan
Die Stille verschieben
Aus dem Engl. von Klaudia Ruschowski
96 Seiten (Edition Nautilus 2022)