Die Cartoon-Taube flattert in die Luft, vollführt einen Salto und landet wieder am unteren Rand des Smartphone-Bildschirms. Die Freude des Vogels über meine ersten gewonnenen Maiskörner ist ansteckend. Rasch klicke ich mich zur nächsten Frage weiter. Auch die dreht sich um Carsten Höllers Lichtinstallation «Denkmal für Hans Künzi», dessen Leuchtringe über mir am Europaplatz-Eingang des Hauptbahnhofs Zürich pulsieren. «Yes!» – auch über diese richtige Antwort und die zehn Maiskörner freut sich die Taube mit mir.

Mais gegen Sticker fürs eigene Kunstwerk

Maiskörner und feiernde Tauben? Ich bin mit der Spiel-App «Artspotting» auf Stadtrundgang. Seit letztem November lädt diese Spieler ein, die Stadt Zürich und ihre Kunstwerke im öffentlichen Raum zu entdecken. Als Stadtführerin fungiert die kunstbegeisterte Taube Panksy. Wer mit dem sprechenden Vogel losziehen möchte, braucht ein Smartphone mit vollem Akku, im Optimalfall Kopfhörer und gut zwei Stunden Zeit. Unterwegs gibt es mehrere Stopps mit «Challenges», bei denen man Maiskörner gewinnen kann – Panksys Lieblingsessen.

Den Mais wiederum können die Spieler gegen Sticker eintauschen, aus denen sich zum Schluss ein eigenes Kunstwerk collagieren lässt. Ins Leben gerufen haben «Artspotting» die beiden Kunsthistorikerinnen Karin Frei Rappenecker und Bettina MeierBickel. Sie haben die App in erster Linie für Jugendliche konzipiert, verstehen sie aber auch als Vermittlungswerkzeug für Schulklassen und als Spiel für den Familienausflug. «Ursprünglich spornte uns die Frage an, wie man Jugendliche, die vielleicht nicht aus einem kunstaffinen Haushalt stammen, für Kunst begeistern könnte», sagt Bettina Meier-Bickel.

Schon bald sei dann die Idee entstanden, etwas in der Stadt zu machen. «Kunst im öffentlichen Raum bietet den Vorteil, dass sie auch ohne Eintrittsgeld immer verfügbar ist.» Um die Jugendlichen abzuholen, kam der Gedanke auf, das Smartphone für die Kunstvermittlung einzusetzen. «Handy und Gamen gelten als verpönt, weil sie Jugendliche angeblich isolieren. Wir kombinieren die beiden Elemente, um die Jungen dazu zu bringen, sich draussen in der analogen Welt zu bewegen», sagt Meier-Bickel. 

Die Taube Pansky tratscht auch mal gerne

Es ist eine ordentliche Strecke, die man als Spieler von «Artspotting» zurücklegt. Die Taube Panksy führt einen quer durch die Zürcher Innenstadt und trägt massgeblich dazu bei, dass die Entdeckungsreise kurzweilig bleibt. Sie regt an, den Hals nach Fassadenverzierungen zu recken. Sie lotst einen zu Sprayarbeiten ihres Lieblingskünstlers Harald Naegeli. Oder sie blendet auch mal das Video eines längst verschwundenen Werks ein, zum Beispiel Julian Opies Videoinstallation wandelnder Passanten.

Dazwischen gibt Panksy launisch Tratsch aus der Stadtgeschichte wieder oder stösst ernsthafte Diskussionen über die Rolle der Frau in der Kunstwelt oder das koloniale Erbe der Familie Escher an. Die Navigation von «Artspotting» funktioniert durchs Band ausgezeichnet: Geotracking einschalten und stets sieht man auf der App-Karte den eigenen Standort sowie Richtung und Distanz zum nächsten Stopp. Wem die ganze Tour zu lang ist, kann das Spiel übrigens auch einfach pausieren und an einem anderen Tag zu Ende führen.

Bruchlandungen inklusive

Das Smartphone in meiner Hand vibriert, ich habe den Halt mit einer «Challenge» erreicht. Bei der «Pavillon-Skulptur» an der Bahnhofstrasse stellt mir Panksy die erste Frage zu deren Schöpfer Max Bill. Weil ich diese falsch beantworte, gibt es keine Maiskörner, sondern ein enttäuschtes Aufattern und eine wüste Bruchlandung von Panksy. Zum Glück folgt kurz darauf keine Wissensfrage, sondern die Anregung, sich einfach einmal Bills Skulptur zu nähern. Ich streiche über die Granitquader, die im einsetzenden Regen bereits zu schimmern begonnen haben.

Sie fühlen sich glatt und kühl an. Netterweise werde ich für diese Beobachtung mit Maiskörnern belohnt. Ein niederschwelliger Zugang war den «Artspotting»-Initiantinnen Karin Frei Rappenecker und Bettina Meier-Bickel wichtig. Nach Testläufen mit Schülerinnen und Schülern von Sekundar-, Bezirksschul- und Gymiklassen sei schnell klar gewesen, dass sie auch «Challenges» einbauen wollten, bei denen es nicht um richtig oder falsch ging, sagt Meier-Bickel. «Wir möchten, dass die Spieler die Werke einfach mal auf sich wirken lassen. Deshalb geht es bei einigen Fragen nicht nur um Wissen, sondern auch um Emotionen und Beobachtungen.

Wir möchten gerade den Jugendlichen zu verstehen geben: Wenn ihr Kunst präzise anschaut, versteht ihr auch ohne Vorwissen etwas davon.» Die Fachstelle Schule + Kultur Kanton Zürich hat «Artspotting» bereits in ihr Angebot digitaler Kulturvermittlung aufgenommen. Bettina Meier-Bickel und Karin Frei Rappenecker hoffen zudem, die Spiel-App künftig auch für andere Schweizer Städte realisieren zu dürfen.

«Wow, du hast echt Talent!»

Die letzte «Challenge» liegt vor dem Kunsthaus Zürich. Bei den Fragen zur Videokünstlerin Pipilotti Rist war ich nochmal richtig gut und habe 50 Maiskörner gewonnen. Die tausche ich jetzt gegen Sticker für mein Kunstwerk ein. Grosse Nase, verzogene Augen, ein Körper aus pinken Ringen und roten Kringeln – meine Arbeit erinnert etwas an die grotesken Collagen der Dadaistin Hannah Höch. «Wow, du hast echt Talent!», ruft Panksy begeistert – und hängt mein Werk kurzerhand an die Glasfassade des virtuellen Prime Tower.

Mir ist diese prominente Platzierung etwas unangenehm. Aber Künstler sind ja bekanntlich sehr selbstkritisch.

Artspotting
www.artspotting.ch
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