Lehrerin Arnold Die Lehrerin Arnold hatte einstweilen das Problem, dass Erziehung sie nicht im Geringsten interessierte. Es interessierte sie Wissensvermittlung frei von moralischen Implikationen, frei von Beseelung durch Belehrung. Die Lehrerin Arnold hatte einen sehr freien und fulminanten Zugang zu Menschen; sie stellte sich hin und wieder bis öfter – im Winterhalbjahr beinahe täglich – an den Tisch in der Kneipe, der implizit den Erwerbslosen zugeeignet war.
Es war demnach ein ungekennzeichneter Stammtisch mit öliger Lackierung über günstigem, doch urstabilem Holz; da stand sie gerne und paffte fachpersonisch die gelegentliche Berufsfreiheitszigarette. Die Lehrerin Arnold war für vieles verloren und für manches gewonnen, doch für ein langgewordenes Bier neben Alix, Richi und Thoma war sie seit jeher ausgesprochen zu haben.
Sie liebte das Helle und Miese der Situation, das zu grelle Licht, welches Alix manchmal am Lampenhalter anstiess, die Jukebox, die hin und wieder deutschen Schlager hervordröhnte oder wahlweise Tina Turner, die manchmal vom Ziehen des Steckers nachgerade erstickt wurde.
Sie liebte das Helle und Miese der Situation, da sie ihr das Genick brach und zeitgleich ihren Bewegungsapparat zu renovieren schien, denn nichts lief schief unter diesen Vorzeichen, nichts spannte, es nervte sie der Blauschein der nahegelegenen Polizeistation nicht, es störte sie die Wiederholung der Wiederholung von öfter sich gleichenden Worten aus dem Munde von Alix nicht. Sie konnte innerlich beinahe mitsprechen, was sie ebenfalls ungemein beruhigte, Alix war eine Art Jinglemanufaktur ihres Lebens, oder Jingleboccafaktur, notierte sie sich innerlich, während Alix:
DU SCHREITEST BALD ZUM ERLÖSER oder DEIN GESICHT IST EIN KOHLRABI oder DU RIECHST NACH DEM VERWESUNGSGERUCH DER WÜRMER, DIE IN DIR WOHNEN oder DU HAST ABSOLUT KEINE AHNUNG UND DAVON NACKENPROBLEME oder DEIN GESICHT ERINNERT MICH AN HACKFLEISCH oder MAN SIEHT DIR UNGUT AN, DASS DU NUR EIN HÄSSLICHER VERLORENER KLEINER RÜCKSICHTSVOLLER KUMPANE BIST, DER IN ALLEM AUCH NUR VERSUCHT, ETWAS ZU ERHASCHEN, DAS IHM BLOSS KEINE BLÖSSE GEBE, SONDERN ZUKUNFT VERMITTLE UND VISION.
Das meinte er aber alles ausgesprochen gut, eher als Trainingseinheiten seiner medialen Fähigkeiten zur Wachhaltung der Menschen. Alix hatte die Seele eines gekränkten Dobermanns, aber die eines kleinen, der um seine Kleinheit schmerzlich ahnte. Sie liebte das Helle und Miese der Situation, sie liebte ihr kreidebleiches Gesicht unter starken Köpfen;
Nasenhaare vom Wind zerzaust, sichtbare formgewordene Zeit namens Falten, sie sah Kampf und Verlust und wiederum Gewinn eingerieben wie eingeschrieben in diese Gesichter, das machte sie unendlich vibrierend vor Glück oder Lebendigkeit, was manchmal, dachte sich Lehrerin Arnold verstohlen auf der Toilette, kaum unterscheidbar war.
Der Elf Rudi
Rudi hatte sich zum 31.10. als Elf konfiguriert. Heiter und unentwegt hatte er sich vorgestellt, wie er als Elf durch die Strasse schritt, breitbeinig, wohlmeinend, ätherisch-attraktiv.
Er hatte sich vorgestellt, wie er an seiner fulminant länglichen Elfenhaarlandschaft wob, einen See würde er auf seinen Schädel platzieren, er fürchtete sich davor, als Wasserleiche geschändet zu werden, weswegen er sich definitiv und militant für die Euphorie des Elfischen entschieden hatte;
Rudi war sich sicher, er würde leuchten und erleuchten über den Strassen Würzburgs, er würde hochsaumselig ein eigener Festtagszug sein und mit einer Tüte aus Wasser an Häusern klingeln, die für ihn bestimmt waren, ihn zu verzuckern, ihn zu entzücken, ihm leise Versicherungen über das Wohlgesonnene des Lebens zuzusenden in Form von – dann halt, dachte Rudi – Süssigkeiten aus den USA.
Ihre Liebhabenden
Sara ohne h war grossmundig und regelrecht intelligenzstrotzend, sie liebte Wissen, ihr Durst danach war chronisch unstillbar. Sie sammelte beispielsweise Wissen über Körperpartien; insbesondere Fussbehaarungen waren ihr Spezialgebiet. Wurzelten die Haare nur über dem Spann oder gerieten sie zusehends auch in Gefilde der Zehen? Hatten sie die Dichte von Intimhaar oder eher von Rückenhaar?
Ihr deklariertes Ziel war es, eine gekräuselte Fussbehaarung zu finden. Das fehlte in ihrer Sammlung ebenso wie ein Fuss ohne Zehen, der ansonsten behaart war. Sie mochte insbesondere Füsse, denen vermeintlich etwas fehlte, da rauschte ihr Blut vor Aufregung, denn Mangel deutete auf Entbehrung hin, und Entbehrung deutete auf emotionale Geschultheit in der Demut des Seins hin.
Beide schätzte Sara ohne h hoch ein. Überdies hatte sie nicht nur ein lauerndes Interesse an für manche abseitige Spezifika, sondern war Doktorandin an einer Hochschule, die sie bei sich Tiefschule nannte, denn langweilen tat sie sich auf den Fluren und Sitzungszimmern, ausser sie sah Füsse. Nun, wie kam sie an die Füsse, oder wie kamen die Füsse zu ihr? Das erfahren wir ein anderes Mal, so viel sei verraten: Es hatte mit der guten alten Kunst des versierten Briefeschreibens zu tun sowie mit einem internationalen Netzwerk.
Sara ohne h war grossmundig sowie zügig und teilte ihr gesammeltes Wissen gerne mit allen, wenn die Zeit reif war. Sie berichtete vielerorts von den Wissensständen über Fussbehaarung, sie zeigte vor und machte klar, welche Stellen sie meinte, ihr war es ein Anliegen, ungehörig unbeachtete Körperpartien mit Wissen zu systematisieren, Typus b 22 war ihr beinahe abgegriffenstes Beispiel erhabener Fussbehaarung.
Wenn es nachtete, legte sich Sara ohne h geduldig neben eine Fussprothese, die sie in der Caritas gefunden hatte, Grösse 38 und von ihr zärtlich bekritzelt mit Zeichen und Bekundungen, ein Fuss, der wusste, wer er war und wohin er gehörte. Sara ohne h schlief freudvoll ein, und empfängnisbereit lauschte sie auf das vertraute Klimpern der Zehen.
Manchmal legte sie die Fussprothese in eine Socke, ging mit ihr spazieren, ein Park mit Enten, unweit von ihrem Zuhause, Sara ohne h vergass im flirrenden Mittagslicht für Minuten die Zumutungen eines Seins und ging freundlich verloren mit ihrem Blick gerichtet auf Hecken oder auf Enten, geschäftig und lösungsorientiert.
Zur Person
Katja Brunner (* 1991) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. 2013 wurde sie mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie von «Theater heute» zur Nachwuchsautorin des Jahres gewählt und war mit «Die Hölle ist auch nur eine Sauna» für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Seitdem schrieb sie zahlreiche weitere Stücke, die unter anderem am Schauspielhaus Zürich, am Schauspiel Köln und an der Volksbühne Berlin uraufgeführt wurden. 2021 erschien ihr Buchdebüt «Geister sind auch nur Menschen». Katja Brunner lebt in Zürich und Berlin.