An meinen Lesungen wünsche ich mir einen Dialog oder wenigstens ein Echo, deshalb reserviere ich genug Zeit für Fragen aus dem Publikum. Einmal sass ein Mann mit hochrotem Kopf da. Kaum war die Fragerunde eröffnet, riss er seinen Arm hoch und fuchtelte wild mit meinem Roman. Seine Sitznachbarn rutschten zur Seite, so ein Buch ist ja nicht ungefährlich, wie ich von einem Leseclub im Seniorenheim weiss.
Dort wählt man die Bücher nach ihrem Gewicht aus, denn die Leser sollen sich nicht verletzen, falls sie bei der Lektüre einschlafen und ihnen das Buch ins Gesicht fällt. Doch der Aufgebrachte war weit weg von solchen Überlegungen und fragte mich empört: «Warum nur hatte Hannah Arendt eine A!äre mit einem Nazi wie Karl Barth?» Diesen Namen müssen die meisten erst googeln, auch der Herr hätte gut daran getan und wäre auf Martin Heidegger gekommen, aber viel wichtiger ist seine heisse Empörung.
Beim Lesen von «Was wir scheinen» schlüpfte er in die Schuhe von Hannah Arendt und blieb alles andere als kalt. Weil er sich ausmalte, wie die Jüdin mit dem Nazi, aber nicht merkte, dass er sich dadurch gerade neben Hannah Arendts Schuhe stellte. Seine Frage führte ihn also nicht aus seinem Kopf heraus (übrigens kam diese Publikumsfrage mehr als einmal). «To stand in someone’s shoes» heisst, sich in die Lage des Anderen zu versetzen.
Ich habe diese Redensart aus Amerika mitgebracht, weil ich sie mag, obwohl die Sache mit den Schuhen der Anderen offensichtlich nicht narrensicher ist. Muss sie auch nicht. Echte Empathie ist selten, ohne Kontextwissen und Umsicht ist sie nicht möglich. Genau da knüpfen auch die meisten Publikumsfragen an: «Wie sind Sie darauf gekommen?» Wer das fragt, möchte ja erfahren, wie meine Geschichte mit einer Figur, einem Thema, einem Ort begonnen hat, wie es weiterging, ob es gar eine Liebesgeschichte ist.
Es ist eine Grundfrage, wo die Ideen herkommen und wie sie uns finden. Warum finden mich gerade die und keine anderen? Sind Ideen Luft- oder Feuerwesen? Suchen sie am liebsten Menschen auf, die bereits viele Ideen haben? Bevorzugen sie bestimmte Menschentypen, etwa Umsetzungsstarke, oder ist es ihnen völlig egal, ob sie auf der Erde verwirklicht werden? Das Publikum will wissen, wie ich auf meine Ideen komme: «Was brachte Sie zur Hauptperson und zu den anderen Figuren in ‹Was wir scheinen›?
Haben Sie Hannah Arendt vielleicht in Amerika kennengelernt? Was fasziniert Sie am Tessin, Sie arbeiten so viel darüber? Und wie kommen Sie zum Haus an der Brunngasse 8 und zur jüdischen Familie aus dem Spätmittelalter und wie zur Idee, einen Film darüber zu machen? Sind Sie eigentlich Jüdin?»
Letzteres hat man mich auch bei meinem ersten Film «Whatever Comes Next» über eine jüdische Wienerin gefragt und bereits vor über zehn Jahren, bei dem Hörspiel, für das ich zum ersten Mal in den Schuhen von historischen Frauen das Drehbuch geschrieben habe. Es sind vier eigenwillige Denkerinnen, die ich dafür ausgewählt habe, eine jede hinterliess ein aufregendes Werk: Zu Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Hadewijch, den Visionärinnen aus dem Mittelalter, setzte ich die in Auschwitz ermordete Etty Hillesum.
Unmittelbar war die Idee zum Hörspiel da. «Der Ozean im Fingerhut» wollte lebensnah sein, von Mensch zu Mensch, als sässe man am Tisch mit den Frauen, die die grosse Quelle der Ideen kennen und lieben. Am intensivsten erlebe ich die Frage, woher die Ideen kommen, mit meinem Publikum an Stadttouren. Manche Gruppen sprudeln über vor Ideen, wenn ich sie durch das «Kriminelle Zürich» führe, werweissen, wer und was ich bin. Auf der Strasse erfinden sie mich neu, ein amüsantes Spiel.
Bald bin ich Polizistin, bald Justizbeamtin, es kann gut sein, dass man mich eines Tages nach meinem Strafregisterauszug fragt. Umgekehrt werde ich im «Gesunden Zürich», meiner Medizinaltour, zur Hebamme oder Ärztin. Eine Geschichte beginnt, wenn Ideen und Inhalte in einem Menschen zusammenkommen und in ihm miteinander zu spielen beginnen. Eine Geschichte, die ich gestalte, hat ja nur deshalb einen wahren Kern, weil ich ein Teil davon bin, ein lebendiger Teil des Lebens selbst.
Weil ich mitempfinde und mitdenke, erlebe, reagiere und handle. Ich glaube, dass darin auch das Geheimnis der Ideen liegt. Sie kommen zu mir, wenn ich in die Schuhe der Anderen schlüpfe und auf Empfang bin. Ich lasse mich von ihrem gelebten Leben, ihren Werken einladen, und auch ich lade sie ein, mit mir zu denken und zu fühlen. In den Schuhen der Anderen gehe ich durch Jahrhunderte und die Geschichten, die sie mir erzählen.
Am Ende des «Kriminellen Zürich» lasse ich die Katze aus dem Sack und erzähle aus meinem Vorstrafenregister zwischen Wissenschaft, Fernsehen und Kulturbetrieb. Vieles habe ich hinter mir gelassen, seit ich mein kleines Boot ins unendliche Meer der Geschichten gestossen habe. Erst auf hoher See beginnen meine Erfindungen mit Figuren. Ja, genau das werde ich dem Publikum antworten, wenn es nach dem Woher fragt. Schiebt sich eine erste Idee an einen heran, ist sie ja meist unscheinbar und kaum grösser als ein Fingerhut.
Fünf Regentropfen gehen da rein, denkt man, niemals ein Zürichsee, geschweige denn ein Ozean. Man kann den Weg noch nicht erahnen. Auch nicht, wie die Idee wachsen wird – und ich mit ihr. Wohin mich die Geschichte mit einer Figur führen wird und wie immens die Liebe und das Glück sind, die unser Fingerhut fassen kann.
Zur Person
Hildegard Keller ist in der Ostschweiz aufgewachsen, war Literaturdozentin in neun Ländern und ist als Literaturkritikerin aus dem Fernsehen bekannt («Literaturclub» u. a.). Von 2001 bis 2017 war sie Professorin für mittelalterliche Literatur an der Universität Zürich und an der Indiana University.
2021 erschien ihr Roman «Was wir scheinen» über Hannah Arendt, 2022 ihr Dokfilm «Brunngasse 8 – Zeitreise nach Zürich». Im Herbst wird ihre zweibändige Biografie zu Alfonsina Storni veröffentlicht.
www.hildegardkeller.ch