Es brauchte vier Jahrzehnte, bis ein US-amerikanisches Verlagshaus die einzige Erzählung von Toni Morrison als eigenständiges Buch herausbrachte. Nun liegt ihr Text über Rassismus und Klassenzugehörigkeit erstmals auch auf Deutsch vor.
Morrison erzählt darin die Geschichte von Twyla und Roberta. Die beiden achtjährigen Mädchen treffen in einem Kinderheim aufeinander, freunden sich an und begegnen sich später als Frauen immer wieder – in einem Restaurant, einem Supermarkt oder bei einer mit harten Bandagen geführten Demonstration.
«Von den anderen wollte niemand mit uns spielen»
In «Rezitativ» spielt die US-amerikanische Autorin mit unserer Wahrnehmung: Von Beginn an wissen wir zwar, dass eines der Mädchen schwarz und das andere weiss ist. Doch wir werden bis zum Schluss des Textes im Unklaren darüber gelassen, welche der Figuren welche Hautfarbe hat.
Das ist mit Absicht so konstruiert. Schliesslich ging es der 2019 verstorbenen Schriftstellerin vor allem darum, alle rassifizierenden Codes zu entfernen und die Leserinnen und Leser mit den eigenen Vorstellungen und Vorurteilen direkt zu konfrontieren.
Twyla ist die eigentliche Erzählerin der Geschichte. In mehreren Rückschauen berichtet sie aus ihrer Perspektive über ihr Leben und die Begegnungen mit Roberta. Bereits im ersten Satz legt sie die Gründe für ihren gemeinsamen Aufenthalt im Kinderheim St. Bonny’s offen: «Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank.»
Wenige Sätze später konstatiert sie: «Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe!»
Dass sich beide anfreunden, ist ihrem Gruppenstatus geschuldet: «Am Anfang mochten wir uns nicht besonders, aber von den anderen wollte niemand mit uns spielen, weil wir keine richtigen Waisen mit lieben verstorbenen Eltern im Himmel waren. Uns hatte man abserviert.»
Eine bereichernde Lektüre
Morrisons Text ist ein Experiment, das zeigt, wie stereotype Vorstellungen die Wahrnehmung leiten und den Blick aufs Wesentliche verstellen. In ihrem Nachwort schreibt die britische Autorin Zadie Smith: «(…) so, wie Morrison ihre Erzählung konstruiert, müssen wir zwangsläufig eingestehen, dass neben der rassifizierten auch noch andere Kategorien gemeinsame Erfahrungen hervorbringen. Kategorien wie arm oder weiblich, auf Gedeih und Verderb dem Staat oder der Polizei ausgeliefert zu sein, in einem bestimmten Postleitzahlenbezirk zu wohnen, Kinder zu haben (…).»
Der knapp 100 Seiten dünne Band ist eine bereichernde Lektüre und ein ausgezeichnetes Stück gesellschaftskritischer Prosa. Stilistisch zeichnet sich der Text durch Eleganz und Knappheit aus. Sowohl die Dialoge wie auch die Figurenzeichnungen gelingen der Autorin aufs Beste.
Toni Morrison
Rezitativ
Aus dem Englischen von Tanja Handels, Rowohlt 2023,
96 Seiten