Auf dem dünnen Band haftet ein goldener Aufkleber mit der Aufschrift «Nobelpreis für Literatur 2022». Und aus welchen Gründen auch immer man ihn liest: Man wird nicht enttäuscht. Hier schreibt eine erfahrene Autorin über das Vergehen von Zeit, die Kraft der Erinnerung und die Notwendigkeit, das Erlebte schriftlich zu fixieren: «Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt», schreibt Ernaux. Wie seine Vorgänger gründet das neue Werk «Der junge Mann» zwar auf der Biografie der 1940 geborenen Autorin, ist aber teilweise fiktionalisiert.
Sprachliche Eleganz und originelle Gedanken
Erzählt wird die Geschichte ihrer kurzen Liebesbeziehung mit dem jungen Studenten A., der aus ähnlichen Verhältnissen stammt wie die Erzählerin und dessen prekäre Lebenssituation eine Flut an Erinnerungen auslöst. Mit A. scheint es möglich zu sein, ihr früheres Leben zu wiederholen, es erneut gedanklich zu durchschreiten – diesmal allerdings mit souveränem Blick, ganz ohne Scham: «Anders als mit achtzehn oder fünfundzwanzig, als ich ganz in den Geschehnissen gelebt hatte, ohne Vergangenheit oder Zukunft, hatte ich […] mit A. den Eindruck, Szenen und Gesten wiederaufzuführen, die bereits stattgefunden hatten.»
Bemerkenswert ist auch, dass Ernaux früher in derselben Stadt studiert hat wie A. und dass sie aus seiner Wohnung direkt auf das ehemalige Krankenhaus blicken kann, in das sie vor Jahrzehnten wegen einer starken Blutung nach einer heimlichen Abtreibung eingeliefert worden war.
Über diese schwierige Zeit im Jahr 1963 schreibt Ernaux den Text «Das Ereignis», den sie nur wenige Wochen nach der Trennung von A. beendet. In «Der junge Mann» seziert sie ihre damalige Liebschaft nicht bis ins allerkleinste Detail, eher beschreibt und charakterisiert sie A. im Verhältnis zu sich selbst. Das liest sich hin und wieder so, als würde sie ihn zu einem reinen Objekt degradieren. «Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war», schreibt sie etwa.
Die Erzählung brilliert durch sprachliche Eleganz und den Reichtum origineller Gedanken. Ernaux zeigt sich erneut als Meisterin der Rückschau und des genauen Blicks auf die Gesellschaft. Kleiner Wermutstropfen: Am Ende der Lektüre wünscht man sich mehr Text als diese luftig gesetzten 48 Seiten.
Buch
Annie Ernaux - Der junge Mann
Aus dem Französischen von Sonja Finck
48 Seiten (Suhrkamp 2023)