Da sitzt ein Mann in einer Zelle und bereitet eine Verteidigungsrede vor. «Dass ich hier vor Ihnen stehe, ist das Resultat einer langen Reihe von Missverständnissen», erklärt der Protagonist Olivier Kamm
einem imaginären Gericht. Um sogleich alles zu verwerfen. Denn wie sich verteidigen, wenn man nicht weiss wofür.
Im richtigen Leben hatte es Kamm als Leiter des Instituts für Rechtsmedizin und später als Verantwortlicher bei einem Projekt zur Zerschlagung eines Kinderpornografie-Rings weit gebracht. Dann ging es bergab, denn: «Die Bilder blieben haften. Es folgten Träume, auch solche, in denen er die Seite wechselte, zum Überlaufer wurde, ein Täter. Albträume.» Gefördert bis zur Überforderung geriet das Leben des «Ausgebrannten» aus den Fugen.
Auf drei Ebenen erfährt man mehr aus Kamms Vergangenheit: Da sind seine flammenden Voten als «vermeintlich Angeschuldigter», da sind Gedanken, die tief in die Abgründe seiner Seele blicken lassen. Da sind Kommentare, die Vorgefallenes nüchtern erklären. Immer neue Fakten kommen ins Spiel: Packend, spannend, beklemmend – einem Thriller gleich.
Gerster legt mit «Ganz oben» ein starkes Stück Literatur vor, das tief ins Innere eines physisch und psychisch Ausgebrannten blicken lässt. Es ist ihr dritter Roman. Dabei hat sich die 54-Jährige einmal mehr mit der Psyche des Menschen auseinandergesetzt. Im ersten Roman «Dazwischen Lili» (2008) dokumentiert sie eine seelische Krise mit dem Thema Demenz. In «Schandbriefe» (2011) hat Gerster menschliche Beziehungen hautnah nachgezeichnet.

[Buch]
Andrea Gerster
Ganz oben
163 Seiten
(Lenos 2013).
[/Buch]