Der Zürcher Unionsverlag ist bekannt für seine hochwertig gestalteten Bücher, die Bild und Wort auf ästhetisch anspruchsvolle Weise zusammenbringen. Mit den 19 abgedruckten Gemälden berühmter Frauen und den dazu passenden Erzählungen ist Martina Clavadetschers «Vor aller Augen» keine Ausnahme. Inhaltlich kreisen die Geschichten um die Frauenfiguren, die auf den Gemälden grosser Künstler wie etwa Delacroix, van Gogh, Hodler oder Rembrandt porträtiert und für die Nachwelt namenlos verewigt wurden.
Befreit vom Fluch der Körperlichkeit
In ihrem Nachwort erläutert die Schwyzer Autorin, um was es ihr beim Schreiben dieser Geschichten gegangen ist: «Mein Hauptanliegen war es, diese omnipräsent gewordenen Frauen vom Fluch der reinen Körperlichkeit zu befreien. Ich wollte sie beim Namen nennen, ihnen eine Geschichte und vor allem eine Stimme geben.» Mit Walburga Neuzil und der betitelten «auf dem Rücken liegenden Frau», einem aus dem Jahr 1914 stammenden Gemälde des Wiener Malers Egon Schiele, fing für die Autorin die konzeptionelle Auseinandersetzung an: «Ich entschied, den Text aus Walburgas Perspektive zu schreiben, aus der Sicht einer Frau, deren Namen nirgends auf dem Bild zu finden ist.»
«Literatur ist immer Behauptung»
Es ist äusserst verdienstvoll, wie sich Clavadetscher dieser stummen Biografien bedient, in gewisser Weise aber auch anmassend: Schliesslich lässt die Autorin ihre Figuren in einer Sprache sprechen, die rundum erfunden ist. Clavadetscher ist sich dieser besonderen Vorgehensweise bewusst und meint: «Diese Leben trotzdem zu erzählen, gehört zur wunderbaren Arbeit einer Autorin. Literatur ist immer Behauptung. Literatur ist lustvolle Grenzüberschreitung. Sie erzählt die Geschichten anderer.» Und das macht sie in ihrem vorliegenden Erzählband sehr gekonnt, weil sie mehrheitlich den richtigen Ton findet, eigenständige und überzeugende Atmosphären kreiert und längst vergangene Zeiten literarisch glaubhaft aufleben lässt. Lediglich bei der ersten Erzählung, in der es um das Leben von Cecilia Gallerani geht, der sogenannten «Dame mit dem Hermelin» auf einem Gemälde von Leonardo da Vinci, kommt der gewählte Einstieg etwas konstruiert daher. Clavadetscher lässt die Porträtierte von Anfang an über ihre Betrachter zürnen, was als Textanlage sprachlich recht eng geführt wirkt.
Clavadetscher ist eine souveräne Erzählerin
In stilistischer Hinsicht ist dieser Text jedoch wie alle anderen im Band hervorragend; etwa, wenn Cecilia Gallerani folgende Worte in den Mund gelegt werden: «Ich weiss, wie es dazu kam, dass zu jenem Zeitpunkt in meinem Bauch bereits die Mutterbänder zogen, weiss, dass sie eine innere Ahnung zur Gewissheit dehnten. » Clavadetscher ist eine durch und durch souveräne Erzählerin. Nach der Lektüre weitet sich der Blick auf die porträtierten Frauen radikal: von reinen Objekten zu eindringlichen und kritischen Stimmen ihrer jeweiligen Zeit. «Vor aller Augen» ist damit ein im besten Sinne feministisches Buch.
Martina Clavadetscher
Vor aller Augen
240 Seiten (Unionsverlag 2022)