Allmählich versinkt die Nachkriegszeit in der Erinnerung. In einem schwierigen Heute zwischen einem belastenden Gestern und einem möglicherweise leichteren Morgen spielt der Roman «Liebe Unbekannte» des Ungarn Istvan Kemeny. Der Leser lebt diese Phase mit als Beobachter einer verzweigten Familie.
Er nimmt Anteil an Einzelschicksalen zwischen Hoffen und Bangen, eingeübter Anpassung und gewagtem Aufbegehren, zwischen enttäuschter und träumerischer Realitätsverweigerung. Unmittelbar zu spüren sind die Kräfte, die ein Familienepos bestimmen: Liebe und Hass, Ehrlichkeit und Lüge, Vertrauen und Misstrauen im wechselnden Lauf.
Istvan Kemeny erzählt ernst und witzig, melancholisch und heiter, fürsprachlich und anklagend. Er zieht alle Register einer überbordenden Fantasie und verwandelt als Fabulierkünstler mit einem kritischen Sensorium die Zeitgeschichte in eine Familiengeschichte.
Das klingt nach Lesevergnügen. Ungezählte Passagen voller Farbigkeit beschreiben fesselnd Personen und Situationen, lösen mal ein Kopfnicken aus, mal ein Stirnrunzeln, mal ein erstauntes, mal ein befremdetes Mitleiden.
Nur: Das Buch ist kein gefügtes Ganzes, das sich vor den Augen des Lesers Schritt um Schritt aufbaut. Die 19 Kapitel sind zwar über Personen und Orte miteinander verbunden, aber nicht über eine sich spannend entwickelnde Handlung. Der Roman könnte nach dem achten oder zwölften Kapitel abbrechen oder sich bis zu einem dreissigsten Kapitel fortsetzen. Lesen ist bei Istvan Kemeny harte Arbeit.
Offene Fragen
Was der dem Buch vorangestellte Satz «Alles ist wahr, und natürlich auch dessen Gegenteil, vor allem aber alles» an Entschlüsselungsaufwand verlangt, nötigen Hunderte von Sätzen an Anstrengung ab. Die immer wieder verdichteten Formulierungen mit vewirrenden Unterzügen sind sprachlich gekonnt, wenn auch in der Nähe von l’art pour l’art und in den meisten Fällen ohne sichere Verstehbarkeit.
«Einer der Besten»
Die fast 900 Seiten bieten eine lange Lektüre und eine schwere – all jenen ein Geschenk, die sich für mäandernde Geschichten erwärmen und dafür, aus Mosaiksteinen selber ein Bild zu gestalten. Allerdings ohne die Gewissheit, dass das eigene Werk mit dem Plan des Autors übereinstimmt.
Es lohnt sich trotz allem, sich dieser Neuerscheinung anzuvertrauen und sich vom Umfang des Werkes nicht entmutigen zu lassen. Der Romancier und Lyriker Istvan Kemeny, in Budapest lebend und arbeitend, gilt seinem Landsmann und Schriftstellerkollegen Peter Esterhazy als «einer der Besten seiner Generation». Die Bedeutung spiegelt sich auch in den für einen 52-Jährigen renommierten Auszeichnungen.