Der Erzähler trifft auf einer Beerdigung in Berlin-Grunewald eine einsame Frau. Die beiden trauern als Einzige um einen vereinsamten alten Mann. Im Gespräch decken sie dann eine schauderhafte Lebensgeschichte auf, die Ferdinand von Schirach auf wenigen Seiten erzählt. Sie geht ans Herz. Der 58-jährige deutsche Jurist und Schriftsteller ist ein Meister der kurzen Form. Er hat dies in seinen früheren Büchern belegt, als er seinen Erfahrungsschatz aus den Gerichtssälen verwertete. Im neuen Buch «Nachmittage » erzählt er wiederum Lebenstragödien oder liefert Aperçus, die allerdings nicht alle gleichermassen überzeugen. Zu den längeren Geschichten gehört die Lebensbeichte eines schwulen Uhrenunternehmers, der sich nach Marrakesch verzogen hat und dort einen Juwelierladen betreibt. Der Mann hatte gute Gründe, in den Süden zu ziehen, nachdem ihn der Besitzer eines einschlägigen Berliner Nachtclubs erpresst hatte. Spannend sind die Gedanken eines Ich-Erzählers, der über den Roman «Il Gattopardo» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa und dessen Verfilmung durch Luchino Visconti räsoniert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie viele Jahre eines Menschenlebens wirklich wertvoll sind. Wahrscheinlich nur wenige: «Ich habe die meisten Dinge nie ganz verstanden, sie waren zu laut und zu schnell und zu anstrengend. » Einzelne Motive tauchen wiederholt auf, etwa die Begegnung des Ich-Erzählers mit einer Frau im New Yorker Tower Plaza in der ersten Geschichte. Er erkennt sie in der letzten Geschichte wieder, diesmal in einem Museum in Duisburg. Aber nicht etwa als eine Besucherin, sondern als eine Figur, die Alberto Giacometti einst geschaffen hatte. Wunderbar.

Buch
Ferdinand von Schirach
Nachmittage
175 Seiten (Luchterhand 2022)