Kolosseum, Circus Maximus, Via Appia ... Seit zwei Wochen fahre ich mit einem klapprigen Rad in Rom über Pflastersteine an Marmorund Travertinfassaden entlang. So viel antike Baukunst ragt hier in den Himmel, dass es schwerfällt, mich auf den Verkehr zu konzentrieren.
Ein Bus hupt mich in die Schlaglöcher am Strassenrand. Da wiederum kommen mir Touristen auf E-Rollern entgegen, den Reiseführer gefährlich in einer Hand jonglierend. Nur gut, dass Rom auf Hügeln gebaut ist. Das strengt meine Beine zwar an.
Aber wenn ich mein Rad oben beim Gianicolo abschliesse und zurückschaue, kann ich die antike Skyline in aller Ruhe von oben betrachten: Pantheon, Forum Romanum und viele andere Gebäude, deren Fassaden ich aus meinem Lateinbuch kenne, deren Ausmass ich aber nicht ahnte.
Was mich damals auch nicht interessiert hätte, denn die acht Jahre Latein-Grammatik habe ich der Kantonsschule Solothurn nie verziehen. Jetzt aber habe ich den sogenannten Rompreis in Form einer Residenz in einem Kunstatelier der Villa Massimo angetreten und werde diesen Steinen zehn Monate lang entlangradeln – unterwegs in die Bars und Theater von Trastevere.
Und da drängt sich mir die Frage auf: Wer hat diese Steinbrocken in einer Zeit vor maschinellen Baukränen aufeinandergeschichtet? Im Lateinbuch standen damals Namen wie Nero oder Vespasian in der Bildlegende unter den Gebäuden. Aber Kaiser schleppen keine Monolithen.
«Die Antike, wie wir sie heute kennen, wäre ohne Sklaverei nicht denkbar gewesen», sagt Annemarie Schantor vom Deutschen Archäologischen Institut Rom. Sie sitzt mir im Lesesaal gegenüber. Hier sind wir von Fachliteratur umgeben. Aber über die Bauarbeiter steht in den Büchern wenig.
Es gibt auf antiken Bauten keine Steinmetzzeichen, mit denen Handwerker im Mittelalter Kirchen signierten. Verträge zwischen dem Bauherrn und den Handwerkern wurden selten ausführlich in Stein gemeisselt, sagt die Archäologin. Und selbst wenn es Verträge gegeben hätte, würden darin kaum unbezahlte Sklaven auftauchen. In Berlin, wo ich die letzten 20 Jahre gelebt habe, weiss man seit dem Debakel um den neun Jahre zu spät eröffneten Flughafen, wie komplex und intransparent Grossbaustellen sein können.
Aber im alten Rom wurden ganz andere Mengen von Schweiss (und Blut) vergossen. In der Kaiserzeit bestand die Bevölkerung Italiens bis zu einem Drittel aus Sklaven. In grosser Zahl waren sie in der Landwirtschaft beschäftigt. Aber oft auch im Baugewerbe. Und doch wurde über sie wenig geschrieben. Ausser sie zogen den Neid von römischen Dichtern wie Marcus Valerius Martialis auf sich.
Der beklagte sich, dass ehemalige Sklaven in der Gesellschaft höher aufstiegen als er selbst. Höchste Eisenbahn, unter anderen Prämissen aus dem Kunstatelier auf die römische Zwangsarbeit zu schauen. Übrigens: Man sollte sich die römischen Sklaven nur in einigen Fällen als People of Color vorstellen.
Die meisten wurden in der Antike durch Feldzüge gewonnen. Wenn Caesar also Gallien oder Claudius Britannien eroberte, dann kamen die Sklaven eben aus dem heutigen Frankreich oder England, sagt Annemarie Schantor. Einen Moment lang versuche ich, mir die französischen und englischen Touristen auf ihren E-Scootern als Sklaven vorzustellen.
Aber das Bild funktioniert irgendwie nicht. Wie sehen Sklaven in der Neuzeit aus? Leonardo da Vinci war zum Beispiel Sohn einer Sklavin aus dem Kaukasus. Und auch die Kirchen, in denen Touristen hier Da Vincis Malerei bewundern, liessen die Päpste nicht ohne Zwangsarbeit bauen.
Irgendwann wurde Sklaverei durch Leibeigenschaft abgelöst, aber gesetzlich verboten wurde sie in Venedig zum Beispiel erst 1816, sagt Giulia Bonazza, die an der Universität von Bologna über die Geschichte der Sklaverei forscht. Mein Atelier steht in einem malerischen Park zwischen steinernen Männerbüsten, die bestimmt keine Sklaven abbilden.
Der Park befindet sich in einem Stadtbezirk, der im italienischen Faschismus gebaut wurde, als Italien Äthiopien annektierte. Woher und unter welchen Umständen damals die Bauarbeiter kamen, dazu werde ich in den nächsten Wochen meiner Residenz mehr erfahren. Heute schaue ich erst mal «Lazarro Felice», einen Film von Alice Rohrwacher.
Darin ist ein italienisches Bergdorf zu sehen, dessen Bewohner am Ende des 20. Jahrhunderts ohne Lohn auf dem Feld arbeiten, weil sich das Ende der Leibeigenschaft irgendwie nicht bis in dieses entlegene Tal herumgesprochen hat. Endlich von der Polizei befreit, werden die Arbeiterinnen und Arbeiter im Film zunächst obdachlos und machen sich dann auf die Suche nach Schwarzarbeit im Spätkapitalismus – der Misere entkommen sie in der neuen Freiheit nicht.
Vor ein paar Wochen starb 70 Kilometer südlich von Rom Satnam Singh, einer von Tausenden von Schwarzarbeitern, die hier die Melonen ernten, die ich so gerne zum Frühstück esse. Sein Arbeitgeber hielt sich nicht dafür zuständig, ihn nach einem Unfall ins Krankenhaus zu fahren, und liess ihn verbluten. Für einen Moment fiel darauf Italien in Schockstarre, weil die ausländischen Arbeitskräfte, die Früchte für weniger als 5 Euro die Stunde ernten, auf die Strasse gingen.
Anders als in der Antike kommen diese heute freiwillig nach Italien, wenn sie es – allen Bemühungen der Meloni-Regierung zum Trotz – über die Grenze schaffen. Ohne dass irgendein römischer Kaiser einen Feldzug nach Afrika ausrufen muss. Aber an ihrer rechtlichen Situation hat sich für sie seit der Antike nicht viel geändert. Vielleicht sollte man darüber mal ein Kapitel in den Reiseführern über Italien schreiben.
Zur Person
Stefan Kaegi ist 1972 in Solothurn geboren. Er hat Kunst und Angewandte Theaterwissenschaften studiert und inszeniert weltweit dokumentarische Theaterstücke, Hörspiele und Stadtraumbegehungen.
Gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel arbeitet Kaegi im Autoren-Regie Kollektiv Rimini Protokoll, das als Begründer eines neuen «Reality Trends auf den Bühnen» («Theater der Zeit») gilt. 2011 wurde es mit dem Silbernen Löwen für Theater an der Biennale in Venedig und 2015 mit dem Hans-Reinhart Ring ausgezeichnet.