«Wir sind weder hier noch dort.» Der Protagonist in Shady Lewis’ Roman «Auf dem Nullmeridian» steht auf dem titelgebenden Längengrad im Londoner Stadtteil Greenwich, der die Welt in West und Ost teilt. Hier bringt er seine zwiespältigen Gefühle zum Ausdruck. Vor zehn Jahren aus Ägypten nach England emigriert, kann er in London das «Stigma des Fremden» nicht ablegen, während er in Kairo genauso ein Fremder wäre.

Träge Bürokratie und ein hilfloser Beamter

Und nun soll er sich auch noch um den Leichnam eines ihm unbekannten syrischen Geflüchteten kümmern. Die Familie des Verstorbenen darf nicht einreisen, deshalb soll jemand vor Ort die Bestattung organisieren. Die namenlose Hauptfigur in Lewis’ zweitem Roman weist offensichtliche Parallelen mit dem Autor auf.

Der 1978 in Ägypten geborene Sohn koptischer Christen kommt 2006 in die britische Hauptstadt, wo er über zehn Jahre im sozialen Dienst der Stadtverwaltung arbeitet, zuständig für die Zuteilung der raren Sozialwohnungen.

Seine Erfahrungen als «Fragebogenmann», die Hilflosigkeit als Beamter anderen Migranten gegenüber, fliessen in die zeitgemässe Schilderung ein. Während die Antragsteller in provisorischen Unterkünften wohnen, ist die Bürokratie komplett überfordert. Lange Bearbeitungszeiten und unnötiger Papierkram verunmöglichen eine effiziente Wohnungsvermittlung. Menschen werden hingehalten, müssen warten. Nach einem tragischen Ereignis droht die Situation schliesslich zu eskalieren.

In sarkastischem Ton beschreibt Lewis geradezu kafkaeske Zustände. Anhand des Todes eines jungen syrischen Geflüchteten namens Ghiyath, der einsam in einer Zweck-WG gestorben ist, macht der Autor in blumig-poetischer Sprache die sonst meist im Verborgenen bleibenden anonymen Schicksale vieler Migranten sichtbar. «Wenn ich schon den Lebenden zu nichts nütze war, war es ja das Mindeste, dass ich etwas für einen Toten tat», meint der fiktive Ich-Erzähler lapidar

Ein Roman über den Tod und die Fremdheit

Begleitet wird er bei seinem ungewöhnlichen Vorhaben von eigenwilligen, grotesken Charakteren aus Osteuropa und der Karibik, aus Nigeria und dem Irak. Lewis abstrahiert, schweift ab. Liefert banale, aber auch viele kluge Einsichten über den Umgang mit Tod, Einsamkeit und Fremdheit. In seine Rahmenerzählung integriert er die unglaublichsten Geschichten.

Etwa über einen mit Plastiklöffeln gegrabenen 100 Kilometer langen Tunnel und eine von einem Delfin begleitete Flucht durchs Mittelmeer. Er entlarvt Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in London und in Kairo. Fast sehnsüchtig schildert er den einstigen Alltag in Ägypten, während er zynisch auf die förmliche britische Gesellschaft mit ihren Teezeremonien und Höflichkeitsfloskeln blickt. Eindringlich und mit bissigem Witz macht er die Zerrissenheit von Einwanderern und Einwanderinnen spürbar und entlarvt gleichzeitig das arrogante eurozentrische Weltbild.

Am Ende ist der Tod überall genauso kompliziert wie das Leben, stellt der Erzähler nüchtern fest. Denn selbst Tote müssen noch viel ertragen.

Buch
Shady Lewis
Auf dem Nullmeridian Aus dem Arabischen von Günther Orth
224 Seiten
(Hoffmann und Campe 2023)