Frische Pasta in Rom oder ein Gelato am Strand – so schmecken für die meisten die Ferien in Italien. «Typisch italienisch» ist das aber nicht. Zumindest wenn es nach Alberto Grandi geht. Der Autor und Wirtschaftshistoriker zerlegt in seinem Buch «Mythos Nationalgericht» die Traditionen der italienischen Küche, die, so seine Kernthese, zum Grossteil erst in den 1970er-Jahren entstanden sind.
Schutz durch Gütesiegel dank schlauem Marketing
Grandi verunglimpft die italienische Küche als «Jurassic Park»: Kleine Reste alter Traditionen transplantierte man in neue Gerichte, die nichts mehr mit dem Original zu tun hätten. Gemeint sind zum einen die Rezepte und Herstellungsweisen, vor allem aber das Narrativ vieler regionaler Spezialitäten. Passende Lokalgeschichten also, die teilweise uralte, vermeintlich römische oder etruskische Wurzeln suggerieren, erfunden von geschickten Marketingstrategen, um ein Gütesiegel zu rechtfertigen.
Kurzum: Das Erschaffen einer «vertrauensfördernden Vergangenheit» für Nahrungsmittel, um damit Konsum und Tourismus gleichermassen anzukurbeln. Schliesslich wirkt ein mit handwerklicher Sorgfalt lokal hergestellter Käse authentischer, nachhaltiger und gesünder als ein industriell gefertigtes Produkt, so Grandis Argumentation. Anhand ausgewählter Beispiele will er seine Theorie untermalen und die uralte Herkunft unterschiedlicher italienischer Kulinarikklassiker widerlegen.
In einzelnen, kurzen Kapiteln widmet er sich jeweils einem Produkt: von der ursprünglich in Israel gezüchteten Pachino Tomate aus Sizilien bis hin zum Parmesan, der im US-amerikanischen Wisconsin angeblich näher am ursprünglichen Geschmack dran ist als in Parma. Vermutlich nicht ganz zu Unrecht kritisiert er die explosionsartige Vermehrung von Herkunftsbezeichnungen, sei es für Wein, Käse oder Fleisch.
Spaghetti Carbonara – ein Rezept aus den USA?
Wiederholt betont er den Einfluss der 15 Millionen Italiener und Italienerinnen, die zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in alle Welt auswanderten, insbesondere in die USA. Diese italoamerikanische Gemeinschaft prägte die Küche ihrer Heimat mit Herstellungsprozessen und Zutaten ihres Gastlands.
Polemisch spitzt Alberto Grandi jedoch auch diesen durchaus nachvollziehbaren Aspekt zu: So seien die Spaghetti Carbonara eigentlich ein US-amerikanisches Gericht, zumindest was die Zutaten betrifft. Eine Art «American Breakfast», Eier und Speck, dem man Nudeln hinzufügte.
Die typische italienische Regionalküche, von US-Amerikanern miterfunden? Ein Skandal! Aber ist die ganze Aufregung um ein Buch, das in Italien sogar politische Gemüter erhitzte, gerechtfertigt? Nur bedingt. Denn genau wie Grandi das Fehlen von Rezepten «mit nachweisbar lokalem Ursprung» anprangert, liefert er selbst kaum nennenswerte Beweise, die seine Thesen untermauern. Er bezieht sich auf Sekundärliteratur, oft fehlen handfeste Argumente. Ob man Grandi am Ende Glauben schenken mag oder nicht: Unterhaltsam ist sein Buch allemal. Und die letzten Italienferien rücken gedanklich und geschmacklich nochmals ein kleines bisschen näher.
Alberto Grandi
Mythos National gericht
Aus dem Ital. von Andrea Kunstmann
256 Seiten
(Harper Collins 2024)