Vor rund 1000 Jahren war die tägliche Verpflegung karg, Hungersnöte waren eine wiederkehrende Bedrohung. Die Menschen blieben machtlos gegen schlechte Ernten oder Kriege: Nach der Ankunft der Normannen in England waren viele gezwungen, «Pferde, Hunde, Katzen, Ratten und anderes abscheuliches und gemeines Ungeziefer zu essen; ja, einige schreckten nicht davor zurück, Menschenfleisch zu sich zu nehmen», schrieb ein Chronist.
Erst im 16. Jahrhundert hielten unsere modernen Essgewohnheiten in Europa langsam Einzug. Nicht nur besser gestellte Familien konnten sich reichhaltige Mahlzeiten leisten. Oftmals mit Fleisch, je nach Gegend auch mit Fisch. Zudem kamen neue Nahrungsmittel auf wie etwa die Kartoffel.
Das bedeutete eine höhere Lebenserwartung für die meisten. Zu Beginn dieser Epoche wurden die Menschen etwas mehr als 30 Jahre alt, gegen Ende immerhin 50 Jahre oder mehr.
Entwicklung vom 11. bis zum 16. Jahrhundert
Der britische Historiker Ian Mortimer schildert in seinem Buch den mittelalterlichen Alltag in der Zeit vom 11. bis zum 16. Jahrhundert. Der grosse Zeitrahmen dient ihm dazu, die Entwicklung der westlichen Zivilisation nachvollziehbar zu machen.
Mortimer vertritt die These, dass der Fortschritt in jenen fünf Jahrhunderten viel grösser war, als wir es uns heute vorstellen: «Unsere kulturellen Horizonte weiteten sich zwischen 1000 und 1600 dramatisch aus.»
So erstreckten sich die globalen Wirtschaftskontakte Ende des 15. Jahrhunderts bis in den Fernen Osten. Sie wurden zusehends enger; in Ansätzen vergleichbar mit den heutigen. Denn im Laufe des Mittelalters kam das Reisen auf: «Die Zahl der pro Person zurückgelegten Kilometer pro Jahr in Europa verhundertfachte sich wohl mehrmals.»
Ein Handelsreisender legte Mitte des 15. Jahrhunderts mit seinem Gefolge täglich um die 50 Kilometer zurück. Er brauchte somit für die Strecke zwischen Avignon und Paris lediglich zwei Wochen. 200 Jahre früher waren 30 Kilometer täglich ein Maximum, wie die Aufzeichnungen zeigen.
Angehörige dieses Standes waren damals neben den Pilgern die Einzigen, die sich einen Ortswechsel leisten konnten. Die Mehrheit dachte nicht daran, Haus und Hof jemals zu verlassen.
Mortimer macht Fixpunkte aus, welche die Entwicklung beschleunigten – etwa die Pest Mitte des 14. Jahrhunderts, die er als «Wendepunkt in der Sozialgeschichte Europas» bezeichnet. Sie erwies sich, so absurd es tönt, als ein Segen für die Überlebenden. Sie konnten dank den rückläufigen Bevölkerungszahlen von wesentlich besseren Lebensbedingungen profitieren.
Vergnüglich zu lesender historischer Abriss
Ein anderer Eckpunkt ist die zusehends verbreitete Alphabetisierung im späten 13. Jahrhundert: «Es vollzog sich eine zweite Steigerung der Dokumentation, als Landadlige begannen, Buch zu führen: Gerichtsrollen, Pachtverzeichnisse, Rechnungsbücher und Inventarlisten.» Voraussetzung dafür waren die arabischen Zahlen, welche die Mauren nach Europa brachten.
Ian Mortimer hat einen aufschlussreichen historischen Abriss geschrieben, der vergnüglich zu lesen ist. Er versteht es, sozialgeschichtliche Entwicklungen plausibel zu erklären. Dabei verzichtet er auf Ereignisse wie Kriege und ihre Schlachten, die unseren Blick auf die Vergangenheit oftmals verstellen.
Ian Mortimer
Als Licht das Dunkel durchdrang
Aus dem Englischen von Karin Schuler
336 Seiten
(Piper 2024)