Wenn auch nur die Hälfte davon wahr ist, was die Römerin Veronica Raimo in ihrem als autofiktional angepriesenen Roman erzählt, kann man nur darüber staunen, dass die Autorin einigermassen unbeschadet aus diesem familiären Kuriositätenkabinett herausgegangen ist. Der Vater ist ein cholerischer Hypochonder, der in die Wohnung in Rom überall Wände und Hängeböden einbaut, sodass die Familie in Kämmerchen mit Mini-Fenstern lebt.

Nach der Tschernobyl-Katastrophe verbietet er seinen Liebsten drei Jahre lang, etwas anderes als vor dem 26. April 1986 abgefülltes Dosenessen zu konsumieren – was der Familie einen akuten Vitaminmangel beschert. Auch die Mutter ist überängstlich, terrorisiert mit ständigen Kontrollanrufen die Freunde ihrer Kinder und ist bei der Polizei einschlägig bekannt, weil sie ihren Sohn und ihre Tochter ständig als vermisst meldet.

«Mein Bruder stirbt etliche Male im Monat», beginnt denn auch der Roman, in dem die 45-jährige Autorin mit einer grossen Portion schwarzem Humor und genussvoller Übertreibung von dieser dysfunktionalen Familie berichtet, in der stets von der grösstmöglichen Katastrophe ausgegangen wird. Der Versuch der Ich-Erzählerin, aus diesem erstickenden Umfeld auszubrechen, beschränkt sich anfangs aufs Lesen und auf die Fantasie – darauf, «mir Dinge einzubilden, sie zu benennen, sie heraufzubeschwören, bis ich sie glaubte.»

Als junge Frau befreit sie sich aus dem Korsett, zieht nach Berlin und führt ihr eigenes Leben als Schriftstellerin.

Soll man lauthals lachen oder entsetzt sein?

Mit «Nichts davon ist wahr» schafft Veronica Raimo eine Mischung aus Komik und Beklemmung. Denn oft scheint hinter der Groteske die Verletzlichkeit durch. Auch die italienische Gesellschaft kriegt ihr Fett weg. Etwa wenn Raimo von der Doppelmoral der Kirche erzählt, von rigiden Ansichten zu Abtreibung, von sexueller Belästigung und einem patriarchalen System – aber nie moralisierend, sondern auf so lustige Art, dass man nicht weiss, ob man lauthals lachen oder entsetzt sein soll.

Erste Schritte in die «Hochstapelei»

Im Roman präsent ist die blühende Fantasie und der laxe Umgang der Ich-Erzählerin mit der Wahrheit. Die ersten Schritte in die «Hochstapelei» waren die Tagebücher, die sie in der Jugend eigens für ihre Mutter geschrieben hatte –  wohlwissend, dass diese sie heimlich liest: «So schenkte ich ihr eine Version meiner selbst zur freien Verwendung.» Se non è vero, è ben trovato: Das gilt für diese Familie besonders. «Schon immer haben wir die Wahrheit manipuliert, als wäre es eine Stilübung, der vollkommene Ausdruck unserer Identität», schreibt Raimo.

Ihre Tragikomödie ist eine Wahrheitsfindung der eigenen Art, die in Italien mit dem Premio Strega Giovani ausgezeichnet wurde. 

Buch
Veronica Raimo
Nichts davon ist wahr
Aus dem Italieni-
schen von Verena
von Koskull
224 Seiten (Klett-Cotta 2023)