Es zwickt im Rücken, das Gedächtnis lässt nach, und der Trübsinn zieht ein: Für den 73-jährigen Adalbert Hanzon fühlt sich das Leben in einem schwedischen Kaff oft wie ein «alter Lumpen» an. Seine Kontakte beschränken sich auf den ebenso griesgrämigen Nachbarn und Saufkumpanen Henry und seine geschwätzige Grosscousine Ingvor. Beide gehen ihm gehörig auf die Nerven, und doch ist er mangels Alternative froh um ihre Bekanntschaft.
Vom Leben erwartet Adalbert nicht mehr viel, das wird in Hakan Nessers Roman «Der Halbmörder» schnell klar. Bis er in der Apotheke eine Frau sieht, in der er seine vor Jahrzehnten spurlos verschwundene Jugendliebe Andrea zu erkennen glaubt. In Panik ergreift Adalbert, so schnell es seine Altersgebresten zulassen, die Flucht – doch die Begegnung verleiht ihm einen Energieschub.
Er beginnt, Nachforschungen zu Andrea anzustellen, und setzt sich fortan täglich an den Küchentisch, um eine Chronik der vergangenen Ereignisse von den 50ern bis in die Gegenwart zu schreiben. Sein Ziel: «Alles aufschreiben, was ich fast vergessen habe. Denn erst wenn man die Dinge nicht mehr in Worte fasst, die Verhältnisse und Ereignisse, verschwinden sie unter der Oberfläche (…).»
«Leute, die es einfach nicht hinbekommen»
Und diese von einem alten Griesgram verfasste Chronik legt Hakan Nesser nun seinen Lesern als Roman vor. Sein Ich-Erzähler hält sich an keine Chronologie und schweift immer wieder ab in Gegrummel über Alltagslas- ten und die Frage, was sein Geschreibsel überhaupt bringen soll. Dennoch vermögen seine lakonisch-humorvollen oder philosophischen Einsichten bestens zu unterhalten.
Der 72-jährige schwedische Autor Hakan Nesser ist für seine Krimis bekannt, die in über 20 Sprachen übersetzt und teilweise verfilmt wurden. Auch im neuen Buch vermag er die Spannung in Krimimanier bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Die Geschichte, warum Adalbert zum «Halbmörder» wurde, seine geliebte Andrea von der Bildfläche verschwunden ist und er im Gefängnis landete, setzt sich nach und nach aus geschickt eingestreuten Puzzleteilen zusammen.
Nessers Roman ist viel mehr als ein Krimi: Es ist ein Buch über das Altwerden, den Verlust geliebter Menschen und über ganz normale Leute, «die es einfach nicht hinbekommen», wie Adalbert schreibt. «All die, die das Leben von der Wiege bis zur Bahre wie ein Motorrad mit Beiwagen und Reifenpanne vor sich hin schleifen.»
So ist sein elegant geschriebener und mit überraschenden Sprachbildern angereicherter Roman zwar von nordischer Melancholie durchzogen, aber oft auch umwerfend komisch: etwa in den von Whisky durchtränkten Gesprächen zwischen Adalbert und Henry, die in grantiger Antipathie verbunden sind. Oder in regelrechten Slapstick-Szenen, welche die altersbedingten Schwächen mit trockenem Humor kommentieren.
Dass sich im Griesgram auch eine zarte Seele verbirgt, zeigt sich, wenn Adalbert in berührenden Worten seine Liebe zu Andrea beschreibt. Und so wird Hakan Nessers alter Kauz wider Erwarten zu einem Sympathieträger, dem der Hoffnungsschimmer am Schluss vergönnt ist.
Buch
Hakan Nesser - Der Halbmörder
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
288 Seiten (btb 2022)