«Von keiner Menschenseele gesehen zu werden, hiess, sich wie ein Gespenst zu fühlen», grübelt Nives. Die titelgebende Figur von Sacha Naspinis gleichnamigem Roman ist nach dem Tod ihres Ehemanns einsam. Über 40 Jahre lang waren die beiden zusammen. Nun lebt die 67-Jährige allein auf einem entlegenen Hof inmitten der toskanischen Hügel und fühlt sich zunehmend «wie zwischen den Wolken wandelnd».

Auf sich gestellt, sucht die schlaflose Witwe schliesslich in der Gesellschaft einer hin- kenden Henne Trost. Als Giacomina, das Huhn, plötzlich von einer Waschmittelwerbung hypnotisiert vor dem Fernseher erstarrt, wendet sich die verzweifelte Nives hilfesuchend an den befreundeten Tierarzt Loriano Bottai.

Zwei ganze Leben auf den Kopf gestellt
Aus dem Notruf entwickelt sich ein fast sechsstündiges Telefonat, in dessen Verlauf die Bäuerin und der Veterinär ihr Leben im Schnelldurchlauf Revue passieren lassen. Die beiden erinnern sich an gemeinsame Bekannte und beschwören alte Geschichten herauf. Dazwischen schleudern sie sich unheilvolle Erinnerungen und finstere Geheimnisse entgegen, die seit Jahrzehnten in ihnen gärten.

Obschon der Grossteil der Erzählung auf dem eskalierenden Telefongespräch der beiden Protagonisten beruht, gelingt es Naspini dank den lebendigen, messerscharfen Dialogen und unerwarteten Wendungen, die Spannung durchwegs aufrechtzuerhalten. Er schafft es sogar, einen kleinen Krimi in die «Lawine von Rückblenden», wie der verbitterte Veterinär die Anschuldigungen bezeichnet, einzubauen.

Zwei ganze Leben packt der 1976 in der Toskana geborene Autor mit viel Witz und Feingefühl in seinen klugen Roman. Seine ausdrucksstarke, bildhafte Sprache übersetzt Walter Kögler treffend. «Nives» ist eine ebenso unterhaltsame wie beklemmende Novelle über verpasste Chancen, unausgesprochene Sehnsüchte und aufgegebene Träume. Als Nives und Loriano die Hörer auflegen, stehen jedenfalls beide Leben gewaltig auf dem Kopf.

Sacha Naspini - Nives
Aus dem Italienischen von Walter Kögler
158 Seiten (Kein & Aber 2022)