Lyrik scheint sich oft nur an ein ausgewähltes Nischenpu­blikum zu richten. Dass ein Gedicht aber auch Millionen Menschen erreichen und mit Hoffnung erfüllen kann, hat Amanda Gorman 2021 an der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden gezeigt. Alle Welt war hingerissen von der jungen schwarzen Dichterin und ihren mutigen Worten zur Spaltung des Landes und zur leidvollen Geschichte der ­Afroamerikaner.

Die enorme Resonanz auf das Gedicht «Den Hügel hin­auf» ist auch Gormans eindrücklichem Vortrag zu verdanken. Zusammen mit einer Fülle von weiteren Gedichten kann es nun in einem zweisprachigen Band nachgelesen werden. Auch schriftlich erzielt Gormans klangvoller, rhythmischer Stil seine Wirkung. Statt eines lyrischen Ichs verwendet sie fast durchgängig die Wir-Form. Der Ton ist entschlossen und sendungsbewusst und hat zuweilen etwas Predigthaftes.

«Wahr ist, es macht vergnügt, / fast alles abzulegen – / unsere Wut, unseren Bruch, / unsere Hybris, unseren Hass, / unsere Geister, unsere Gier, / unseren Grimm, unsere Kriege / am umtosten Strand.» So heisst es im Gedicht «Was wir tragen», das hoffnungsvoll in eine Zukunft von Einigkeit, Solidarität und Freiheit zu ­blicken wagt.

Doch der Weg dorthin ist schmerzvoll, denn er führt durch die Aufarbeitung des kollektiven Traumas der afro­amerikanischen Gemeinschaft. Gorman leistet ihren Beitrag dazu, indem sie Archivmate­rial, etwa aus der Zeit der Sklaverei, der Spanischen Grippe oder des Ersten Weltkriegs, ­recherchiert und in ihren Gedichten bearbeitet. Auf dass «unaus­gesprochene Erinnerung zu Kunst, / zu Artefakt, zu Fakt, wieder gefühlt und frei» werde.

Buch
Amanda Gorman 
Was wir mit uns tragen
Dt. von Marion Kraft und Daniela Seel
432 S. (Hoffmann und Campe 2022)