Sachbuch: Seefahrt ins Verderben
«Von unten her strömte Wasser ins Schiff, breitete sich von Raum zu Raum aus ... Ratten liefen um ihr Leben.» Dieses Drama geschah am 14. Mai 1741 vor der Küste Patagoniens. Der US-amerikanische Wissenschaftsautor David Grann beschreibt die Szene in seiner neuen historischen Darstellung «Der Untergang der Wager», einem fiktionalen Sachbuch.
Er berichtet von einem als Handelskahn getarnten Kriegsschiff, deren britische Besatzung spanische Seefahrer ausrauben sollte, die Gold von Lateinamerika nach Europa transportierten. Nach dem Unglück entlud sich ein erbitterter Streit zwischen einem Teil der erschöpften Besatzung und dem autoritären Kapitän. Die wenigen Geretteten mussten sich nach ihrer Rückkehr vor einem britischen Kriegsgericht verantworten.
Die dem Kapitän ergebenen Matrosen sprachen von Meuterei, die anderen von einem legitimen Überlebenskampf. Das Schicksal der «Wager» ist schon oft erzählt worden. Grann schildert es nun nach der Sichtung unzähliger Dokumente als packendes Sozialdrama. Es illustriert das imperiale britische Zeitalter perfekt und ist eine ausgesprochen spannende Lektüre.
David Grann
Der Untergang der Wager
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
430 Seiten
(C. Bertelsmann 2024)
Sachbuch: Gelato in der Hand, Canzoni im Ohr
Die hohe Kunst der Leichtigkeit – das Dolcefarniente – lässt sich besonders gut in Italien zelebrieren: Viel tragen auch die lebensprallen Canzoni dazu bei, welche die schillernde Vielfältigkeit des Landes abbilden.
«Der Nord-Süd-Konflikt, Politik, Korruption und Mafia, die italienische Küche und die Mode – in Italiens Liedern geht es um alles», schreibt Eric Pfeil in seinem neuen Band «Ciao Amore, ciao». Nach seinem Bestseller «Azzurro» (2022) führt er erneut mit Witz und Wissen anhand von «100 neuen und alten Songs durch Italien».
Die Anekdoten rund um die Lieder von Lucio Dalla, Paolo Conte, Gianna Nannini, Mina, Jovanotti oder Zucchero sind beinahe unerschöpflich. Besonders wichtig ist der QR-Code am Anfang des Buchs, der zur Playlist führt. Denn schliesslich will man zu Eric Pfeils Geschichten auch gleich den passenden Ohrwurm hören – und kräftig mitsingen. «Ich warte unten mit dem Cinquecento und schiebe schon Mal die erste Kassette in den Rekorder», schreibt der Autor im Vorwort verheissungsvoll. Viva l’Italia, viva la musica!
Eric Pfeil
Ciao Amore, ciao
Mit QR-Code für Playlist
368 Seiten
(Kiepenheuer & Witsch 2024)
Essayband: Unterwegs durch Südosteuropa
Vor wenigen Jahren lud er zur «abenteuerlichen Reise durch mein Zimmer» und zeigte auf, wie alltägliche Objekte die Fantasie anregen. Für seinen neuen Essayband hat Karl-Markus Gauss, Autor auch der NZZ, sein Salzburger Atelier verlassen und sich auf wirkliche Reisen begeben. Nach Ljubljana in Slowenien und Chisinau in Moldawien, nach Shkodra in Albanien oder Gorizia zwischen Italien und Slowenien – in Städte Südosteuropas also, wo sich Kulturen und Sprachen treffen.
Charmant mutet an, wie Gauss als begnadeter Flaneur seine Erlebnisse beschreibt: in der etwas altertümlichen Art des Reiseschriftstellers, der zuweilen auch durch alte Zeiten reist. Zwischendurch besucht er München oder Wien, den rauchenden alten Vater, und immer wieder berichtet er von seinen verwinkelten Träumen. Das titelgebende Schiff aus Stein übrigens fand Gauss als mächtige, zerbröckelnde Hotelruine im albanischen Roskovec, nahe der Grenze zu Bulgarien. Sein Büchlein liest sich mit Genuss als eine Art Reiseführer zu Stätten am Rande von Zeit und Raum, die aber noch existieren und Besuche lohnen.
Karl-Markus Gauss
Schiff aus Stein
144 Seiten
(Zsolnay 2024)
Weitere Buchtipps für die Sommerferien
Comic: Blasen auf dem Jakobsweg
«Buen Camino!», wünschen sich die Pilger auf dem Jakobsweg. Auch sonst wiederholt sich viel, etwa die Frage, warum man sich den Fussmarsch antut. Die 50-jährige Hauptfigur John hat darauf die lakonischste Antwort: «Entweder das oder ein Porsche.» Der norwegische Zeichner Jason (John Arne Sæterøy) setzt seinen ersten autobiografischen Comic im Ligne-Claire-Stil und mit Tierkopf-Figuren um. Herausgekommen ist eine Art «Täglich grüsst das Murmeltier» – mit Witz und Blasen an den Füssen.
Jason
Ein Norweger auf dem Jakobsweg
192 Seiten
(Reprodukt 2024)
Roman: Von Appenzell nach New York
Schon als Kleinkind arbeitete Maria Antonia Räss im Stickereikeller mit fehlerfreiem Fleiss. Als junge Schaustickerin in Lugano traf sie Walt Disney. Der riet ihr zur Reise in die USA, wo sie mit ihrem Talent Karriere machen werde. Er behielt recht: Die Stickereien von MRA, so das Label der Appenzellerin, wurden zum letzten Schrei. Margrit Schriber erzählt deren Geschichte als biografischen Roman. Dabei zeichnet die Autorin mit Pep und Ironie ein Zeit- und Sittenbild des 20. Jahrhunderts.
Margrit Schriber
Die Stickerin
231 Seiten
(Bilger 2024)
Roman: Kammerspiel mit Pariser Flair
Zwei ungleiche Paare, ein gemeinsames Abendessen, viele Geheimnisse – und der Eklat zum Finale: Der Handlungsablauf in Cécile Tlilis Debüt ist nicht neu, aber die Pariser Autorin versteht es, die Spannung aufrechtzuerhalten und im Roman feministische und gesellschaftskritische Fragen anzudeuten. Denn was in diesem Kammerspiel an einem Sommerabend in einer schicken Pariser Wohnung hinter der Maskerade der wohlsituierten Paare zum Vorschein kommt, lässt tief blicken.
Cécile Tlili
Ein Sommerabend
Aus dem Französischen von Norma Cassau
192 Seiten
(Kein & Aber 2024)
Roman: Zurück in die Schweiz der 80er
Ein russischer Wahrsager wird in Basel erschossen, in Bern wird das sowjetische Pressebüro Novosti aufgelöst, eine Basler Spionin in sowjetischen Diensten macht sich verdächtig – und über allem liegt die titelgebende «Verfluchte Hitze» im Sommer 1983, mitten im Kalten Krieg. Lukas Holliger verknüpft im Roman drei historische Ereignisse, inklusive Originalzitate. Angesichts der zahlreichen Figuren und Verstrickungen empfiehlt sich das Anlegen eines Personenregisters. So wird der rasante Politthriller zum Lesespass.
Lukas Holliger
1983 – Verfluchte Hitze
224 Seiten
(Rotpunkt 2024)
Roman: Spurensuche an der Côte d’Argent
Zoey Weiss, die jahrelang ihre todkranke Mutter pflegte, ist für deren Einäscherung nach Frankreich gereist. Hier, an der Côte d’Argent auf einem Campingplatz am Atlantik, war das gemeinsame Leben einst noch in Ordnung. Vor einer ebenso beeindruckenden wie bedrohlichen Naturkulisse begibt sich die junge Protagonistin in Franziska Gänslers fesselndem zweiten Roman auf die Suche nach ihrer verschwundenen Schwester und der eigenen Identität.
Franziska Gänsler
Wie Inseln im Licht
208 Seiten
(Kein & Aber 2024)
Roman: Aufbruch zwischen London und Ghana
Stephen und Del kennen sich ewig: vom Peckhamer Spielplatz bis zum Bier nach den Jazz-Sessions. Statt in der Kirche finden sie Halt in der Musik und in ihrer Freundschaft. Doch der Schulabschluss beendet ihre Jugend abrupt. Der britisch-ghanaische Autor Caleb Azumah Nelson erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte in drei Sommern zwischen London und Ghana. Seine Sprache verbindet Rhythmus und Authentizität, ist jedoch vor einigen Klischees nicht gefeit. Aber er weiss: «Im Sommer sind alle Menschen jünger.»
Caleb Azumah Nelson
Den Sommer im Ohr
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
304 Seiten
(Kampa 2024)