Ein zweiter US-amerikanischer Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten? Davon ist heute den wenigsten etwas bekannt. Tatsächlich zettelten die US-Amerikaner nach einem britischen Handelsembargo 1812 einen neuen Krieg gegen die Engländer an und wollten sich gleich Kanada einverleiben. Die Kampagne endete mit einem Desaster, weil die Royal Navy der kleinen US-Marine haushoch überlegen war. Der Matrose Ned Myers erlebte den Konflikt als Kanonier auf dem Ontariosee, wo er mit seinem Schiff in Scharmützel verwickelt war.
Genauer Beobachter
Ned Myers (1793–1849) war ein deutschstämmiger US-Seemann, der sein Leben grösstenteils «vor dem Mast verbrachte», dort, wo ein Schiff am meisten schaukelte, also in den niedrigen Rängen. Sechs Jahre vor seinem Tod erzählte er seine Abenteuer dem US-Schriftsteller James Fenimore Cooper (1789–1851), der sie nach eigener Darstellung möglichst wahrheitsgetreu niederschrieb. Der Mare-Verlag hat das Buch neu aufgelegt. Es ist aus heutiger Sicht vor allem als zeitgenössisches Dokument historischer Ereignisse lesenswert. Der ungebildete Myers war ein genauer Beobachter und verfügte über ein zuverlässiges Gedächtnis, sah aber die Ereignisse nicht im politischen Licht.
So erzählt Myers anschaulich, wie die Engländer zu Beginn des 19. Jahrhunderts US-amerikanische Seeleute zwangsweise rekrutierten, um ihre Bestände im Kampf gegen Napoleon zu verstärken. Nach einer Überfahrt von New York nach England bestiegen britische Soldaten Myers’ Schiff und nahmen jeden mit, der sich nicht als US-Amerikaner ausweisen konnte: «Gaines hatte keine Entlassungsurkunde, und der arme Kerl war gezwungen, seine Seekiste zu holen und ins Beiboot zu steigen. Er tat dies mit Tränen in den Augen …»
Keine Romantik
Ned Myers berichtet auch vom Opium-Krieg, als China den Briten die Einfuhr der Droge verbot. Detailliert beschreibt er den illegalen Handel, den die Briten betrieben. In der gleichen Zeit erlebte Myers den Kampf der Seminolen, der Ureinwohner Floridas, gegen ihre Umsiedlung nach Oklahoma. Im Buch ist allerdings nichts von «Edle Wilde»-Romantik wie in Coopers «Lederstrumpf» zu spüren. Wenn immer Myers «Indianern» begegnet, schildert er sie distanziert, aber nicht herablassend. Genauso wie die Schwarzen – keine Spur vom damals üblichen Rassismus.
Überhaupt erscheint Myers in der Darstellung Coopers dem Leser sehr sympathisch. Er trägt nicht dick auf, sondern stellt sein Licht eher unter den Scheffel. Im Gegensatz zu andern zeitgenössischen Quellen jammert er auch nicht über die schlechten Arbeitsbedingungen auf den Schiffen, höchstens ausnahmsweise über die mangelnde Qualität der Verpflegung. Dafür scheinen immer wieder Myers’ Selbstvorwürfe durch; er hing wie die meisten seiner Berufsgattung gerne an der Pulle, was seiner Gesundheit nicht zuträglich war. So sind denn diese Aufzeichnungen eine spannende Lektüre, die ein verletzliches Raubein porträtieren – und viel Lust aufs Abenteuer machen.
James Fenimore Cooper
«Ned Myers »
Deutsche
Erstausgabe: 1844
Heute erhältlich bei Mare.