Soll man an Lesungen gehen? Ich tue es nicht. Respektive ich tue es nur, wenn der Beruf es verlangt oder eine Freundschaft mich nötigt. Im Rahmen einer unsentimentalen Güterabwägung kam ich vor langem zum Schluss: Lesungen lohnen sich in der Regel nicht.
Es gibt ein Urerlebnis des Buches. Da ist das stille Zimmer, da ist das warme Bett, da ist der Text. Wir sind zu zweit, wir sind ganz allein, und ja, es darf alles passieren, was passieren soll. Was beide wollen. Was wir zulassen.
Diese Liebesgeschichte wird lebenslang währen, hoffe ich – möge das Kopfkino nie enden! Ich entdeckte die Kraft der Bilder aus Sprache, als ich ein Kind war. Ich begann mit «Winnetou», mit «Emil und die Detektive», mit «Krabat» und dem Jungdetektiv Kalle Blomquist. Fortan kam immer Neues dazu: Hesses «Unterm Rad». Konsaliks gesammelte Werke, jawohl. Simmel und Kästner und Remarque und Leon Uris und – prickel, prickel – Harold Robbins. Ich las, was meine Eltern zugeschickt bekamen, die ein NSB-Buchabo hatten. Und was ich las, geriet zum Wunder. So ging das weiter, und irgendwann waren da auch Heinrich Heine, Honoré de Balzac und William Faulkner.
Und nun zur Lesung. Um die Jahrtausendwende war ich zwei Jahre hintereinander Juror am Klagenfurter Bachmannpreis. Einige Zeit vor dem Anlass bekam ich sämtliche Texte zugeschickt, die es nun genau zu studieren galt und mit jenen fiesen Bemerkungen zu glossieren, mit denen man später vor laufender Kamera auf Kosten der Autoren punktete.
Dann flog ich mit dem Papierbündel im Koffer nach Klagenfurt, und bevor der Lesezirkus begann, gab es einen Kennenlern-Abend mit den Autoren. Was für eine Enttäuschung! Die Texte waren zu einem guten Teil vielversprechend gewesen. Donnernd nach allen Regeln rhetorischer Kunst, fesselnd depressiv mit einem Stich ins Suizidale, kunstvoll gedreht aus sich türmenden Wendungen mit ziselierten Spitzen, Gotik in der Sprache. Die Autoren aber, die ich vorfand – und ich bitte, das nicht allzu unhöflich aufzufassen: Eine Schar unscheinbarer Kreaturen, bestenfalls normal, andernfalls spinnert. Oder auch blass und scheu. Oder mit einem krummen Rücken oder einem Augentick ausgestattet.
Das Mirakel der Literatur ist die Literatur. Nicht die Literaten – sie sind kleiner als ihre Texte. Das liegt eventuell in der Natur dieser Kunst. Wer keinen Haltungsschaden hat und kein halbgelähmtes Bein, wer weder nuschelt noch stottert und keine krumme Nase hat und auch keinen Schwiegervater, der ihn zwanzig Jahre lang schikanierte, wer keine Schwester hat, die mit fünf an Leukämie starb und keine früh abgegangene Mutter, wer kein Verdingbub war, sondern der Bub vom Sonnseitenhof, wer ausschliesslich stabile und gesunde Beziehungen führt – dieser vom Schicksal Begünstigte wird zum Beispiel Popsänger. Oder Aerobic-Instruktor. Oder Bewerber in einer Castingshow. Oder Segelbootbesitzer. Oder Banker.
Wer glücklich ist, wird in den seltensten Fällen Schriftsteller. Ein glücklicher Kafka wäre zum Chefjuristen einer K&K-Versicherungsgesellschaft aufgerückt und dann in allen Ehren mit 85 in Florida im Kreis seiner Grossenkelinnen und -enkel an einer Lungenentzündung sanft verendet.
Zurück zu Klagenfurt. Die Lesungen zeigten: Die wenigsten Dichter können ihren eigenen Text performieren, dass er Spass macht – und ich meine nicht einmal in erster Linie die Schweizer, die meist ein beflissenes Überhochdeutsch sprechen, das in der Phrasierung dann doch nicht passt. Ansonsten: Knarzestimmen. Krankhafte Räusperer. Leise-Sprecher. Zu-Boden-Blicker. Antitalente des Rhythmus. Eine Abfolge von Selbstsaboteuren. Der schlaue Text aus der Steiermark wurde von einem Typen im billigen schwarzen Anzug mit den schlechten Zähnen und dem übellaunigen Blick live vernichtet. Und jene Erzählung, die ich zu Hause schlau gefunden hatte, Feminismus mit einem Augenzwinkern, wurde von einem traurigen Mädchen aus Hamburg in ein Pamphlet zerredet.
Nein, die meisten Autoren können nicht lesen. Es gibt Ausnahmen. Günter Grass las den Anfang seiner «Blechtrommel» im Radio derart schneidend souverän, dass sich mir, nachdem ich den Roman längst gelesen hatte, quasi ein neues Buch eröffnete. H.C. Artmann am Literaturfestival von Leukerbad: Nie werde ich die verschmitzte Art des damals schon todkranken Dada-Österreichers vergessen und die alterslose Erotik seiner Sätze und Verse. Ernst Jandl kann man sich auf Youtube anhören und muss jedes Mal aufs Neue lachen, wenn er das lautmalerische Gedicht «schtzngrmm» derart militant intoniert, dass man die Maschinengewehre rattern hört. Und Zoë Jenny verkörperte in so manchem Auftritt ihr armes, tapferes «Blütenstaubzimmer»-Mädchen als Basler Gesamtkunstwerk.
Die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, machen Sprachmusik. Oder Lesekabarett. Oder eine Show ihrer selbst. Sie sind Entertainer, Slam-Poeten, bevor es das Wort und das Genre gab, kongeniale Figuren ihrer Texte. Eine solche Lesung jederzeit! Harry Rowohlt in concert, sehr gern und bitte in der ersten Reihe. Aber wenn der Text ad hoc von seinem Urheber zu Tode gesprochen wird, ist das trist. Ich gebe jedem Jungdichter jederzeit gern eine Chance. Und zwar, indem ich sein Buch kaufe und lese. Aber warum sollte ich ihn kennen und es zulassen, dass sich seine Fistelstimme in mein Hirn bohrt? Der Dichter stört meist nur seine Dichtung.