Der Text «Der versiegelte Zug» berichtet vom «Mann, der bei dem Flickschuster wohnt»: «Gleich hinter der Limmat in der engen, alten, buckligen Spiegelgasse haust er im zweiten Stock eines jener festgebauten, dachüberwölbten Häuser der Altstadt, das verräuchert ist halb von der Zeit, halb von der kleinen Wurstfabrik, die unten im Hof arbeitet.» Der Ort: Zürich im Ersten Weltkrieg. 

Der Mann besucht fleissig die Bibliothek, ein Stiller, der jedoch Weltgeschichte schreiben wird. Derweil in der Weltkriegszeit die «Nachrichtenagenten nur auf die Leute achten, die viel reden, und nicht wissen, dass immer die einsamen Menschen die gefährlichsten sind für jede Revolutionierung der Welt, die viel lesen und lernen». Der unscheinbare Mann wird weltberühmt, aber «keine drei Dutzend Menschen in Zürich halten es für wichtig, sich den Namen dieses Wladimir Iljitsch Ulianow zu merken». Unter dem Decknamen Lenin wird er 1917 mit dem Zug heimwärts reisen und die russische Oktoberrevolution anführen.

«Der versiegelte Zug» ist eine von insgesamt «14 historischen Miniaturen» (Untertitel), die im Buch «Sternstunden der Menschheit» versammelt sind. Stefan Zweig schreibt novellenartig über Gelingen und Scheitern in einem manchmal gewöhnungsbedürftigen, pathetischen Ton: «Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müssige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt», heisst es im Vorwort. Zweig nennt sie Sternstunden, «weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen».

Als noch heute gut lesbare, bündige «Geschichtslektionen» findet man unter den 14 Sternstunden solche zu Goethe, Händel, Dostojewski, Tolstoi, zur Entstehung der «Marseillaise», zum tragischen Südpol-Forscher Robert Scott oder zu Waterloo.

Buch
Stefan Zweig
«Sternstunden der Menschheit.14 histo­rische Miniaturen» 
Erstausgabe: 1927
Heute erhältich bei Diogenes.