Viele erinnern sich an den mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman «Wer die Nachtigall stört». Vielleicht war er Schullektüre, oder sie haben die Verfilmung mit Gregory Peck 1962 gesehen. Anstoss zum Wiederlesen dieses modernen Klassikers ist die Nachricht, ein als verschollen geglaubter Vorläufer werde diesen Sommer veröffentlicht.

Die 1926 in Alabama geborene Harper Lee erzählt von einer Kindheit in den 1930er-Jahren im tiefen Süden der Vereinigten Staaten. In kleinen Szenen beschreibt sie den Alltag und die ­Eigenheiten der Leute. Die sechsjährige Ich-Erzählerin Scout und ihr grosser Bruder Jem führen ein zufriedenes Leben mit ihrem Vater Atticus Finch, einem verwitweten Rechtsanwalt. «Er spielte mit uns, las uns vor und behandelte uns im Übrigen mit höflicher Zurückhaltung.» Atticus Finch ist kein typischer Vater. Er nimmt die Kinder ernst, ist ihnen Vorbild und beantwortet ihre Fragen ehrlich und ernsthaft.

Doch diese Idylle trügt. Dass sich die Risse zwischen Schwarz und Weiss, Arm und Reich, Fortschrittlichen und Konservativen erhalten haben, zeigt sich, als Atticus die Verteidigung des schwarzen Land­arbeiters Tom Robinson übernimmt. Dieser soll ein weisses Mädchen vergewaltigt haben. Doch als Schwarzer hat er keine Chance, seine Unschuld zu beweisen.

Atticus wertet es als Erfolg, dass er immerhin Zweifel säen kann und die Geschworenen stundenlang beraten, ehe sie das Urteil fällen. Scout und Jem begreifen, dass die Welt nicht gerecht ist und ihr Vater sie nicht vor allem beschützen kann. Die erneute Lektüre beglückt. Der Roman liest sich frisch und packend, und die durch die Erinnerung geweckten Erwartungen werden erfüllt. Auf den neuen Roman von Harper Lee darf man sich also freuen.

Harper Lee
«Wer die Nachtigall stört»
Deutsche Erstausgabe: 1962
Heute erhältlich bei Rowohlt.

Harper Lee
«Gehe hin, stelle einen Wächter»
(DVA 2015).