Familie, Ehe, Liebe: Das waren die Themen, mit denen sich der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828–1910) zeit seines Lebens beschäftigte. Vor seinem berühmten Epos «Anna Karenina» schrieb er bereits 1859 über das Fami­lienglück – beziehungsweise Unglück. Die Inspiration für seinen Roman «Familienglück» lieferte ihm seine eigene Liebesgeschichte mit der 20-jährigen Valerija Arsenava, wie Übersetzerin Dorothea Trottenberg im Nachwort ausführt. Die beiden hatten sich häufig auf Arsenavas Landgut getroffen. In Briefen wollte er ihr seine Ansichten zur Funktion der Ehe nahebringen – offenbar erfolglos, denn die Beziehung ging bald in die Brüche.

Auch im Roman übernimmt der Protagonist Sergej Mi­chajlyc die belehrende Rolle: Seine Angebetete ist die 20 Jahre jüngere Masa, die er nach dem Tod ihrer Mutter als Vormund besucht. Überrascht stellt er fest, dass aus dem kleinen Mädchen von früher eine blühende Schönheit geworden ist. Masa ist geschmeichelt, und die beiden verlieben sich, heiraten. Nach dem Liebeshoch folgt die Ernüchterung: Das eintönige Landleben langweilt Masa, und als das Paar für eine Saison nach St. Petersburg zieht, gibt sie sich dem Rausch der Stadt hin und geniesst die Bewunderung anderer. Eine tiefe Ehekrise ist die Folge …

Leo Tolstoi erzählt aus der Sicht der jungen Frau und schildert – durchaus mit ­einem gewissen Einfühlungsvermögen – ihre inneren Nöte und Sehnsüchte, ihre Rebellion gegen die Einengung. Moralisch überlegen ist nach den damaligen Wertvorstellungen jedoch der ältere Sergej. Am Ende steht die Katharsis: Masa gibt sich mit dem Leben auf dem Land und einem Ehemann, der eher väterlicher Freund ­als Geliebter ist, zufrieden. 

Ob so das perfekte Fami­lienglück aussieht, lässt der Roman offen. 

Buch
Leo Tolstoi
Familienglück
Aus dem Russischen von Dorothea ­Trottenberg
Erstausgabe: 1859
Heute erhältlich im Dörlemann Verlag