Das «Durcheinandertal» kennt die Leserschaft aus Friedrich Dürrenmatts Roman von 1989. Aber wo befindet sich eigentlich der fiktive Ort, in dem ein Kurhaus als Verbrecherhöhle dient und in Flammen aufgeht? Das Kurhaus hat das Unterengadiner Waldhaus Vulpera zum Vorbild, wo Dürrenmatt regelmässig Gast war – und es fiel nach Erscheinen des Romans tatsächlich einer Brandstiftung zum Opfer. All dies erfährt man auf der Website www.literatur-karten.ch.
140 Schweizer Schauplätze der Literatur sind hier auf einer Landkarte übersichtlich dargestellt und mit zusätzlichen Infos und Originalzitaten versehen. Dazu gehören berühmte fiktive Orte wie Kellers «Seldwyla» oder Dürrenmatts «Güllen» ebenso wie Gertrud Leuteneggers «Mailänderkantine» oder Pedro Lenz’ «Schummertal». Und auch real existierende Orte, die in der Literatur eine Rolle spielen, sind auf den Karten verzeichnet.
Erotik, Liebe, Schmerz
Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti und die Kartografin Anne-Kathrin Weber beschreiben ihr Projekt als «literarische Vermessung der Schweiz». Sie haben es im Auftrag der Schweizerischen Botschaft in Berlin für die diesjährige Leipziger Buchmesse gestaltet. Entstanden ist es aus ihrem Projekt «Ein literarischer Atlas Europas» (www.literaturatlas.eu) an der ETH Zürich, ausgehend von der Frage: Wo spielt Literatur, und weshalb spielt sie dort?
Für die Internetbenutzer ergibt sich daraus eine vergnügliche und informative virtuelle Reise durch die Literaturlandschaft – quer durch alle Epochen und Genres. Fünf Themenkarten laden zum Entdecken ein: Auf der Karte «Liebesszenen» etwa ist zu sehen, wo die erfüllte Liebe, der Trennungsschmerz oder die Erotik in der Literatur stattfinden. Hier stösst man beispielsweise auf den herrlich kitschigen und aus heutiger Sicht unfreiwillig komischen Roman «Mimilis» von H. Claurens. Im Text des meistgelesenen Autors des 19. Jahrhunderts wird dick aufgetragen. In den Augen seiner Protagonistin im Lauterbrunnental spiegelt sich die «himmelreine Höhe der Jungfrau», während sie ihrem Geliebten zuflüstert: «So haben die Alpen noch nie mir geglüht.»
Unpathetischer geht es ganz in der Nähe zu und her: Claude Alain Sulzer siedelt bei den Giessbachfällen seinen Roman «Ein perfekter Kellner» (2004) an, in dem ein Lernkellner eine Affäre mit seinem Ausbildner eingeht. Für solche überraschenden Nachbarschaften sorgt die Literaturlandkarte mit ihrem bunten Mix. Berühmtes steht neben Unbekanntem, Kurioses neben Seriösem, Trivial- neben Kanonliteratur, Zeitgenössisches neben Historischem.
Nebst den «Liebesszenen» gibt es noch weitere Karten zu entdecken: literarische Todesorte etwa – von Mord bis Verstrahlung. Oder Gedankenreisen und Sehnsuchtsorte, die sich die Figuren erträumen. Zudem findet der Nutzer Zukunftswelten mit Orten literarischer Visionen.
Vorschläge erwünscht
Die beiden Website-Verantwortlichen präsentieren eine Auswahl, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und sich beliebig ergänzen lässt. Sie rufen die Benutzer darum zu weiteren Vorschlägen auf: Seit dem Start Ende Februar seien rund 120 Meldungen eingegangen, sagt Barbara Piatti. Die Vorschläge möchte sie in die Fortsetzung des ambitionierten Projekts einbringen – sofern die Finanzierung gesichert werden kann. Material ist jedenfalls mehr als genug vorhanden.