Manche Sinfonieorchester verspüren den Drang, mit Konzertformen zu experimentieren. Dies als Blödsinn abzuschmettern, ist einfach. Als das Zürcher Kammerorchester vor einem Jahr zu Chopins 1. Klavierkonzert Tierfotografien zeigte, spottete die NZZ über die «Ablenkungsfunktion», und die Kritikerin des «Tages-Anzeiger» ging mit der negativen Frage «Was zerstört es?» ins Konzert. Es ist ein Teufelskreis: Wer heute bebildert, macht etwas, das jene, die seit Jahrzehnten Konzerte besuchen, eher nicht mögen; aber jene, die es vielleicht mögen, zieht es ohne Bilder gar nicht in den Konzertsaal.
Die Visualisierung von Musik ist ein Thema für die Zukunft, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten aktuell ist. Kaum war der Tonfilm erfunden, visualisierte man Musik. Walt Disney schrieb 1940 mit dem Zeichentrickfilm «Fantasia» Filmgeschichte. Im Pop-Geschäft wurden Musikvideos zum unerlässlichen Werbe- und Kultobjekt und seit Youtube zum Millionengeschäft.
Ein Anreiz mehr dank Lichtkünstlern
Intendanten wiederholen, dass junge Menschen sich nur schwer länger als 45 Minuten auf eine einzige Audioquelle konzentrieren können. So wäre es denn nur klug, ab und zu nachzuhelfen und einen Reiz mehr zu bieten. Als die Zürcher Kirche Offener St. Jakob Anfang 2019 dank «Projektil» zu einem netten Klangteppich spektakulär bis in die kleinste Stuckatur bebildert wurde, war der Andrang enorm. Innerhalb des einen Monat dauernden Festivals trat auch Tonhalle-Orchester-Geigerin Irina Pak auf und spielte ein buntes Programm, auf das «Projektil» ihre Lichtinstallation abgestimmt hatte. Der Jubel war gross.
«Projektil» verschönerte bisher nicht nur das Bundeshaus in Bern, sondern mischte auch schon bei «Tonhalle late» Konzerten mit. Doch es wird wohl noch lange dauern, bis diese Lichtkünstler an einem Zürcher Tonhalle-Abo-Abend eine dicke Bruckner-Sinfonie zart bebildern dürfen. Noch ist die Experimentierlust bei den grossen Sinfonieorchestern erst in Nebenveranstaltungen zu spüren – oder in freien Projekten.
Das Basler Sinfonieorchester hingegen, das in der Reihe «Concert & Cinema» Filme begleitet, leuchtete diese Saison die Konzerte im Münster speziell aus und wagt sich nun ins KKL Luzern. Dort spielt man – auf Einladung des der Unterhaltung nicht abgeneigten Veranstalters Obrasso – Tschaikowskys 5. Sinfonie zu oder mit Bildern von Fotokünstler Tobias Melle.
Bilder aus Russland zu Tschaikowsky
Melle hat viel Erfahrung bezüglich der Visualisierungen. Der ehemalige Cellist realisierte bereits 1994 eine erste Produktion, bebilderte damals Dvoráks Sinfonie «Aus der Neuen Welt». Weitere populäre Werke folgten.
Melle findet das KKL sehr geeignet für Bebilderungen. Ihm ist aber wichtig, dass der Platz über dem Orchester hoch genug ist für die Leinwand. Allerdings hat gerade die «Projektil»-Show in der Kirche St. Jakob gezeigt, dass es auch ganz anders geht: Dort lag ein Teil des Publikums im Kirchenschiff auf Kissen.
Melle hat mit seiner Kunst unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Er ist jedoch überzeugt, dass all diejenigen, die neue Konzertformate wagen, ein neues Publikum in den Saal bringen würden – egal, um welche Art von Sinfonieorchester oder Veranstalter es sich handelt: «Die Emotionen, welche die zuschauenden Zuhörer während einer Aufführung einer Sinfonie in Bildern haben, sind im Vorfeld schlecht erklärbar – man muss es erlebt haben, denn es geht wirklich um die Musik, die ich um eine visuelle Stimme bereichere.»
Er überlässt nichts dem Zufall. Mit der Partitur von Tschaikowskys 5. Sinfonie im Gepäck bereiste er sechsmal Russland: «Die Musik lenkte meinen fotografischen Blick. Meine Verkehrsmittel waren Zug, Fahrrad, Auto und auch Schneeschuhe. Aus Tausenden von Bildern suchte ich dann den musikalischen Weg, den mir Tschaikowsky vorgab.» Im Ergebnis lässt sich seine 5. Sinfonie so wieder neu und mit ungeschmälerter Wucht erleben.
Vielleicht täten Orchester gut daran, Visualisierungen nicht nur als grosse Show, sondern auch mal als Hörhilfe anzuschauen. Wäre es nicht reizvoll, zu zeigen, was in Richard Strauss’ Tondichtung «Don Quixote» alles abgeht? Die «Abenteuer an den Windmühlen» etwa könnten einfach und klar dargestellt werden. Dann endlich würde der Grossteil des Publikums sehen (und hören!), was das Orchester ausdrücken will. Auch Strauss’ «Also sprach Zarathustra» oder Berlioz’ «Symphonie fantastique» warten darauf, kunstvoll visualisiert und somit neu erklärt zu werden. Oder sind wir da bereits im Klubschulprogramm, fordern wir damit ein Angebot für alle jene, die nicht mehr so flink in der Partitur lesen oder die Werke im Vorfeld eingehend studiert haben? Vielleicht, aber Partiturleser sind heute nun mal so selten wie Brieftauben.
Musikalische Reportage eines Fussballspiels
Während der Fussball-Weltmeisterschaften wagten Irina Pak und Dorothy Yeung mit ihrem Verein «More than Classic» in der Tonhalle Maag einen Versuch in umgekehrter Form: Zum bewegten Bild, zu einem Spiel der Fussballweltmeisterschaft, wurde musikalisch improvisiert. Anstatt eines Sportreporters kommentierte die Musik die Ballwege. Blödsinn oder ein Steilpass zur Revitalisierung der Klassik- ja, Musikwelt?
Visualisiertes Konzert
Tschaikowskys Sinfonie Nr. 5 in Bildern
So, 28.4., 17.00 KKL Luzern
Basler Sinfonieorchester
Leitung: Michał Nesterowicz Idee, Konzeption Fotografie:
Tobias Melle