Jede Minute seiner Zeit in München sei verplant. Die Stunden rundherum mit Proben, Planung und Gesprächen gefüllt, sagt der Kommunikationschef des Bayerischen Rundfunkorchesters mit Sorgenfalten. Wir ahnen Schlimmes für das Gespräch, das in 30 Minuten beginnen soll. Doch kaum ist der Kaffee in der angestaubten Münchner Orchesterkantine getrunken, ist die Probe zu Ende – oder genau genommen: Mariss Jansons hat darauf verzichtet, die Sinfonie nochmals zu spielen. Er wolle am Abend beim Konzert genug Energie spüren, sagt er gegenüber dem Journalisten.
Musikalische Führung durch Ausstrahlung
Gerne spricht Jansons von der inneren Energie des Dirigenten: «Da müssen ein Wille und eine Fähigkeit sein, Musiker in eine einzige Richtung zu führen. Erst dann kann man seine Interpretation verwirklichen. Das hat mit der inneren Welt des Dirigenten zu tun.» Er umschreibt, ringt mit sich, sucht nach Metaphern und sagt dann: «Klar, es geht um ‹Ausstrahlung›. Aber wie kann man dieses Geheimnis physikalisch erklären?» Und dann antwortet er auf seine eigene rhetorische Frage mit einem typischen Jansons-Satz: «Von meinem Herzen geht etwas in den Kopf der Musiker. Es braucht etwas, das den Dirigenten und das Orchester verbindet.»
Er muss dieses «Etwas», das in den Himmel führen kann, allein mit ein paar Bewegungen erreichen. «Meine innere Welt sorgt für den Ausdruck: Ich will die Musiker hypnotisieren, damit sie mitkommen und mir folgen. Auch dann, wenn sie nicht mit dem einverstanden sind, was ich vorne mache. Wenn ich die Musiker durch meine Ausstrahlung gewinne, fühlen sie dasselbe wie ich.»
Der 1943 im lettischen Riga geborene Mariss Jansons erhielt seine musikalische Ausbildung zuerst in St. Petersburg, dann in Wien – bei Grössen wie Evgeni Mravinski (1903–1988), Hans Swarowsky (1899–1975) und Herbert von Karajan (1908–1989 ). Jansons ist seit 25 Jahren Stammgast am Lucerne Festival. Er kommt mit dem Bayerischen Symphonieorchester zu Ostern, kam aber auch mit seinem zweiten Weltklasseorchester, dem Concertgebouw Amsterdam – und im Sommer bisweilen als Gastdirigent der Wiener Philharmoniker. Früher war er mit den Orchestern aus Oslo und Pittsburgh zu Gast. Schön sind die Erinnerungen an die Jahre, als er das Zürcher Tonhalle-Orchester zu ungeahnten Höhenflügen führte und damit selbst David Zinman Grenzen aufzeigte.
Minutiöse Vorbereitung gehört dazu
Da am Lucerne Festival zu Ostern die geistliche Musik im Zentrum steht, kommt Jansons dieses Mal mit Beethovens C-Dur-Messe. Gefragt, ob er solche Werke als Dirigent weniger spirituell erlebe als der Hörer, da er ja am Arbeiten sei, widerspricht er heftig: «Nein, um Gottes Willen. Sogar viel mehr! Ich muss auf der Höhe der Werke stehen: Ich darf mich von nichts ablenken lassen.» Zuhörer könnten schon mal gedanklich abschweifen, «aber wer selbst dirigiert, muss darin versinken».
Für Jansons ist und bleibt ein geistliches Werk geistlich, wird nie zu abstrakter Musik. Minutiös liest er sich vor den Aufführungen in die Welt des Komponisten und der Komposition ein. «Mit jedem Werk muss ich in die Tiefe gehen, es gilt, nicht nur in Noten zu denken.» Das seien bloss Zeichen – eine Art Buchstaben. Diese setzten sich zu einem Satz zusammen. Den verstehe jeder. Aber: Was steht dahinter? Was drücke die Musik aus? Was habe der Komponist gewollt und welche Assoziationen habe er, der Dirigent? «Ich muss diesen Inhalt dirigieren», betont Jansons.
Es irrt, wer glaubt, dass sich der Dirigent demnach für geistliche Werke eine Kirche als Aufführungsort wünscht. «Wenn Sie an Gott glauben, müssen Sie nicht in die Kirche gehen. Da können Sie im Garten, im Konzertsaal oder sonst wo sitzen.» Dazu komme, dass die Akustik in den Kirchen meist schlecht sei. Und spiritueller werde ein Werk schon gar nicht. Denn: «Wenn Sie auf der Strasse nicht spirituell denken, warum soll in der Kirche alles anders sein?» Niemand werde in diesem Moment bekehrt, wenn er zuvor noch ungläubig war. «Alles ist doch hier drinnen, im Herzen.»
CDs
Rachmaninow
Die Glocken – Symphonische Tänze
(BR-Klassik 2017)
Portrait
5 CDs mit Werken von Haydn, Beethoven, Schostakowitsch u.a.
(BR-Klassik 2018)