Sie ist wohlbetucht und fühlt sich in Gesellschaft schrecklich unsicher. Gerade so, wie es sich für ein Mädchen aus gutem Hause in eduardischer Zeit gehört. Zu Beginn des letzten ­ Jahrhunderts galten für Frauen der englischen «Upper Middle Class» noch immer rigide Umgangsformen, gegen die keine ungestraft verstiess.
Und doch zeichnete sich bereits eine liberale Lockerung des gesellschaftlichen Comments ab. Der Schriftsteller E.M. Forster (1879–1970) erkannte mit Feingefühl den Wandel der Zeit, als er den Roman «Zimmer mit Aussicht» 1908 schrieb. Forster selbst war als schwuler Schriftsteller Opfer jener zeitgenössischen Zwänge, wie dies die Autorin Bethan Roberts in ihrem neuen Roman «Der Liebhaber meines Mannes» schildert (Seite 28).
Die junge Lucy besucht mit ihrer älteren Cousine als Gouvernante die Stadt Florenz. Die beiden Frauen lernen dort Mister Emerson und seinen Sohn George kennen. Die flamboyanten Gentlemen symbolisieren die rebellischen Bürger, die sich gegen die viktorianische Prüderie des 19. Jahrhunderts erheben. Lucy begegnet George in der Folge immer wieder bei unerwarteten Gelegenheiten. Aber sie darf für ihn keine Gefühle zulassen, denn sie ist dem hochnäsigen Cecil Vyse versprochen.
Forsters Roman lebt von der Spannung, wie Lucy sich zwischen Konventionen und «wahren Gefühlen» entscheiden muss. Das arme Mädchen ist nicht zu beneiden.

 

E.M. Forster
«Zimmer mit Aussicht»
Deutsche Erst­ausgabe: 1986
Heute erhältlich im Fischer Verlag.