Das Monströse kennt viele Gesichter. Nora Gomringer, die 33-jährige, deutsche Lyrikerin mit Schweizer Wurzeln, fängt
in ihrem Lyrikband «Monster Poems» das ganze Spektrum ein. So erinnert der Titel des Gedichts «Monster & Mädchen» (siehe Seite 9 oben) etwa an das gängige Motiv in Horrorfilmen, in denen eine junge Frau kreischend einem Ungeheuer zu entkommen versucht. Im Gedicht ist allerdings ein Monster mit menschlichem Antlitz angesprochen: Gomringer bezieht sich darin auf die Geschichte einer Frau, die jahrelang vom Pfarrer der Gemeinde missbraucht wurde. Glauben geschenkt hat ihr niemand – nicht einmal die Familie. Die Frau hatte im Gespräch mit Gomringer immer wieder den Ausdruck «er hat mich sortiert» verwendet. «Der Umgang mit einem Monster sorgt offenbar dafür, dass man nicht nur sich selbst monströs und fremd wird, sondern auch ein anderes Vokabular verwendet», sagt Gomringer. Im Gedicht selbst schwingt diese Missbrauchs-Geschichte nur unterschwellig mit. Aber beim Lesen stellt sich das Bild einer Erzählerin ein, die nicht mehr weiss, wer sie selbst und wer das Monster ist. Diese Zersplitterung des Ichs illustriert Grafiker Reimar Limmer mit seiner Collage.
In Nora Gomringers Lyrikband tummeln sich – immer passend illustriert von Limmers Pop-Art-Collagen – auch Film-Monster: King Kong, der Weisse Hai oder der Psychopath Norman aus Hitchcocks Filmklassiker «Psycho». Dieser geht in ihrem Gedicht «P» eine unheilige Allianz mit der Dichterin Sylvia Plath ein. Die Lyrikerin stellt aber auch Bezüge her zur jüngsten Zeitgeschichte: So wandelt sich im Gedicht «Versionen» Arnold Böcklins Gemälde «Toteninsel» zum Schlachtfeld des norwegischen Amokläufers Anders Breivik.
Der Gedichtband ist nicht nur von Düsternis durchzogen: Teilweise blitzt zwischen den Zeilen auch Humor auf. Im Gedicht «Richard the Gere» etwa philosophiert sie augenzwinkernd über das Altern. Aus dem einstigen «Pretty-Woman»-Star ist ein alter Bulle in Brooklyn geworden – «immer öfter stirbst du lately lahm».
Die «Poems» sind voller überraschender Assoziationen und Doppeldeutigkeiten; der Sinn erschliesst sich nicht immer sofort. Oft spricht sie Urängste oder das Monster in uns selbst an – mal mehr, mal minder furchterregend, schwankend zwischen Angst und Faszination vor dem Gruseligen.
Nora Gomringers sechster Lyrikband «Monster Poems» ist bereits mit dem Poesiepreis des Kulturpreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet worden. Über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich die umtriebige Autorin nicht beklagen. So hat sie etwa als erste und mit Abstand jüngste Lyrikerin den Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache erhalten. Nebst Gedichten schreibt sie Texte für Radio und Zeitschriften, tritt als Performance-Künstlerin in der Spoken-Word-Szene auf und leitet seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg.
Aufgewachsen ist Gomringer im bayerischen Wurlitz als Jüngste von acht Kindern: Von ihren sieben Brüdern aus anderen Ehen kennt sie drei gar nicht. «Es gab immer ein Sehnen und Nicht-Wissen über diese Brüder», sagt sie.
Als Tochter der Germanistin Nortrud und Eugen Gomringer, der als «Vater der Konkreten Poesie» gilt, wurde ihr das Flair für die Sprache in die Wiege gelegt. Nora Gomringer selbst betont: «Ich war von elterlicher Vorplanung unbelastet. Über Literatur wurde daheim nicht viel gesprochen, aber ich merkte, dass das eine wichtige Sache ist.» Ihr sei es anfangs «furchtbar peinlich» gewesen, dass sie auch schreiben wollte. «Obwohl ich die vollste Unterstützung meines Vaters hatte – ihm wäre es aber genauso recht gewesen, wenn ich etwas anderes gemacht hätte.» Inzwischen steht sie mit ihrem 88-jährigen Vater sogar ab und zu auf der Bühne, um gemeinsam die Sprache auszuloten.
Auf der Live-Bühne erhält Nora Gomringers Poesie nochmals eine andere Wirkung. Erst in der Mündlichkeit entfalten sich der Rhythmus und der volle Klang ihrer Gedichte. Darum ist dem neuen Lyrikband wieder eine CD beigelegt, auf der die Autorin ihre Texte selbst liest.
Nora Gomringer
«Monster Poems»
64 Seiten
Mit Illustrationen von Reimar Limmer & CD mit Autorenlesung (Voland & Quist 2013).
Drei Fragen an Schriftstellerin Nora Gomringer «Monster haben heutzutage einen guten Ruf»
kulturtipp: Nora Gomringer, in Ihrer Dissertation haben Sie sich mit Horrorfilmen und -literatur befasst. Sind daraus die «Monster Poems» entstanden?
Nora Gomringer: Ja, die «Monster Poems» sind ein Seitenprodukt. Nebst all dem Grässlichen, das man von Monstern erwartet, haben sie etwas Zartes oder Schönes. Monster haben heutzutage ja einen guten Ruf: Zu Kindern sagt man etwa verniedlichend «kleine Monster». Meine Gedichte siedle ich in diesem Spannungsfeld an: Vom Schrecken der Antike bis zum Popkultur-Phänomen. Ich versuche, Geschichten, die man kennt, ins Jetzt zu übersetzen. Das Thema liegt in der Luft, auch bei Film und Fernsehen. Es besteht eine Faszination für Monster unter der Oberfläche, zum Beispiel in der Serie «Dexter», in der hinter der Fassade eines schönen Mannes ein Serienmörder lauert.
Ihre Gedichte sprechen Urängste an.
Ängste haben sich immer einen Ausdruck gesucht. Früher musste man für die missratene Ernte einen Übeltäter finden. Tief verhaftet ist die Benennung eines Monsters, damit man selbst frei von Schuld wird. Heute ist klar geworden: Es ist nicht die Horrorvision eines Monsters, sondern der Mensch selbst, der im schlimmsten Fall den Menschen frisst. Selbst im Alltag bemerke ich viel Monströses um mich herum, das ich in meine Texte einfliessen lasse.
In Ihrer Arbeit sind Film-Elemente zentral. Was reizt Sie am Filmischen?
Im Film gibt es eine andere Art zu erzählen als in der Literatur: Besonders im US-amerikanischen Kino wird immer wieder die Urform gewählt, die nach klassischem dramatischem Aufbau funktioniert. Der Horrorfilm ist oft so aufgebaut, dass er auf eine Katharsis zielt. Im Film lasse ich mir gerne Geschichten in Bildern erzählen. Auf diese Weise lese ich aber selten Prosa. Und die Lyrik liebe ich vor allem darum, weil ich das Gefühl habe, sie ist wie ein Espresso: Ein Extrakt von einer grossen Schöpfung.
Literaturperlen am Festival Leukerbad
Nebst Nora Gomringer sind am Literaturfestival Leukerbad 25 weitere renommierte Autorinnen und Autoren zu sehen und zu hören. Dies wie immer an besonderen Veranstaltungsorten, wie zum Beispiel an der Mitternachtslesung auf dem Gemmipass. Inmitten der Walliser Bergwelt lesen etwa der US-Autor Jonathan Safran Foer, der Deutsche Hartmut Lange, der englisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie oder der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan.
Ein Schwerpunkt ist Afrika: Auf «Spurensuche nach dem Mythos Afrika» begeben sich der Nigerianer Helon Habila, der mit dem Buch «Kongo» bekannt gewordene Belgier David Van Reybrouck und die Südafrikanerin Antjie Krog, begleitet von dem Schweizer Musiker und Autor Raphael Urweider sowie der südafrikanischen Performerin Ntando Cele.
Auch die Schweizer Literaturszene ist gut vertreten: Lukas Bärfuss, Arno Camenisch, Isabelle Flükiger, Gertrud Leutenegger, oder Jonas Lüscher lesen aus ihren neusten Werken.
Begleitend zum Wanderbuch «Einen schweren Schuh hatte ich gewählt. Lesen und Wandern rund um Leukerbad» findet eine Woche vor dem Festival eine literarische Wanderung von Leukerbad nach Leuk mit den Autoren Urs Mannhart, Rolf Hermann, Peter Weber und Wanderführer Peter Salzmann statt.
Literarische Wanderung
Sa, 29.6., 09.30, Treffpunkt: Dorfplatz Leukerbad (Anmeldung erforderlich)
Schreibwerkstätten
Mit Lukas Bärfuss und Katja Lange-Müller
Mo, 1.7.–Do, 4.7.
18. Internationales Literaturfestival Leukerbad
Fr, 5.7.–So, 7.7.
www.literaturfestival.ch