Mit einem Crash beginnt die grosse Liebe: Der Schriftsteller Daniel Deserti rast sturzbetrunken in das Auto des braven Mailänder Anwalts Stefano und dessen Freundin Clare. Der Unfall hat nur geringfügige äusserliche Verletzungen zur Folge – innerlich löst er jedoch ein Gefühls­chaos aus. Der Funke zündet zwischen dem vordergründig arroganten Autor in der Lebenskrise und der schönen Clare, die ihre wilde, unangepasste Seite vor ihrem gut situierten Freund Stefano verbergen muss.

Ein knisterndes Spiel zwischen Nähe und Distanz, Anziehung und Abstossung beginnt. Über 650 Seiten erstreckt sich dieser Balzreigen abwechselnd aus seiner und ihrer Sicht. Und die Spannung flaut nicht ab, obwohl sich die Handlung hauptsächlich um vertrackte Beziehungen dreht. Andrea de Carlo, der sich vor Erscheinen seines Bestseller-Romans «Creamtrain» (1981) als Maler, Filmemacher und Rockmusiker versuchte, vermag die Spannung bis zum filmreifen Showdown sogar zu steigern.

Einzelne Szenen hätten dennoch straffer ausfallen dürfen: Passagen, die den Wechsel zwischen Annäherung und Entfremdung aufzeigen, wiederholen sich. Und ein gewisser Hang zum Pathos ist beim Thema «wahre Liebe» fast unvermeidbar – auch wenn de Carlo den Kitsch meist gekonnt umschifft und der Desillusionierung Platz einräumt. Manchmal bleibt der Autor allerdings in den konventionellen Rollenmustern des tatkräftigen Mannes und der anlehnungs­bedürftigen Frau befangen. Die Stärke des Buches liegt in der minutiösen psychologischen Ausleuchtung – und der anhaltenden Spannung, welche die Intensität einer Amour fou mit sich bringt.


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Andrea de Carlo
«Sie und Er»
656 Seiten (Diogenes 2012).
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