Ein Kinderschreck, der die blutigen Augen unartiger Jünglinge Vogelwesen zum Frass vorwirft: Der Sandmann ist in Hoffmanns Schauererzählung kein liebenswerter Schlummerhelfer. Eine Amme erzählt dem kleinen Nathanael diese «Gutenachtgeschichte» und verpasst ihm damit einen bleibenden Schauder. Als Student trifft Nathanael den Wetterglashändler Coppola, der ihn an den grausamen Sandmann erinnert und alte Wunden aufreisst. Immer mehr entfernt sich der «im Innern zerrissene» Nathanael von seiner Verlobten Klara. Durch Coppolas Fernglas beobachtet er Olimpia, die Tochter seines Professors, und verliebt sich unsterblich in sie. Als er bemerkt, dass sie lediglich eine automatische Holzpuppe ist, «packt ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen». 
Es gibt zahlreiche literaturwissenschaftliche und psychoanalytische Interpretationen des «Sandmanns»: Kalterina Latifi fügt diesen in ihrer historisch-kritischen Ausgabe eine weitere hinzu. Die Germanistin liest den Text streng «poetologisch». Das heisst, sie bezieht ihre Deutung nicht aus dem Stoff, sondern aus der Sprache des Textes. Auch wer sich für die Entstehungsgeschichte des Werks oder für das handschriftliche Manuskript und den Erstdruck interessiert, ist mit der ausführlichen Edition gut bedient.

Vor allem lohnt sich aber die (Wieder-)Lektüre: Denn die Novelle aus der Schwarzen Romantik fesselt noch immer. Hoffmann zeichnet in wenigen Strichen Nathanaels Schwanken zwischen Klarheit und Wahnsinn. Und er führt die Leser in die Irre, da es offenbleibt, wann es um Nathanaels verzerrte Wahrnehmung geht – und wann um schauderhafte Realität.


[Buch]
E.T.A. Hoffmann
Der Sandmann
194 Seiten
Historisch-kritische Edition
Hg.: Kalterina Latifi
Stroemfeld 2012
Erstausgabe: 1817.
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